Es sollte einen nicht wundern, dass, nachdem die gesamte vorangegangene griechisch-römische Kulturperiode darauf ausgerichtet gewesen war, die Gemüts- und Verstandesseele zu entwickeln, es jetzt von zentraler Wichtigkeit ist, einen gesunden Menschenverstand zu haben, um erstens in Harmonie mit der bestehenden Welt leben zu können und um zweitens den neuen seelischen Aufgaben gewachsen zu sein, die sich dem Menschen im Zeitalter der Bewusstseinsseelenentwicklung stellen.
Ob nun ein Menschenverstand gesund oder ungesund ist, hängt zwar auch von vielen Faktoren ab, die außerhalb des Menschenverstandes anzuordnen sind, doch das zentrale Problem ist, dass sich der Menschenverstand selbst in die Quere kommt. Wie konnte das geschehen? Dass der Menschenverstand sich selbst feindlich gegenüberstehe, ist erst möglich geworden durch das Christentum. Es gibt nämlich aufgrund des Mysterium von Golgatha zwei verschiedene Formen des menschlichen Verstandes, wobei die erste, ältere Form das Christus-Ereignis noch nicht in ihr Denken integrieren kann, während die zweite, neuere Form des Verstandesdenkens bereits daran arbeitet, die Gegenwart Christi auf Erden in ihrem Denken zu berücksichtigen. In das Gemüt, also in die grundlegende Seelenverfassung, die mit dem Leben als verstandesbegabtes Wesen verbunden ist, ist das Christus-Ereignis zwar bereits weitreichend als eine Tatsache eingedrungen, die man gefühlsmäßig erfasst, doch im Verstandesleben selbst ist noch viel Arbeit zu leisten. Solange diese Arbeit nicht genügend getan ist, gibt es zwei Formen des Menschenverstandes, die sich gegenüberstehen. Durch diese Zwigespaltenheit des Verstandes kann erst jener ungesunde Menschenverstand entstehen, der für die heutige Welt typisch ist. Auch in älteren Zeiten hat es Bedingungen gegeben, die die Harmonie des Menschen mit seiner Welt stören konnten, doch niemals war diese Störung zum Rang einer Normalität aufgestiegen. Man muss heutzutage bei einem Menschen mit ungesundem Menschenverstand nämlich durchaus von einem normalen Menschen sprechen, während ein gesunder Menschenverstand hingegen meistens davon zeugt, dass ein Mensch noch nicht ganz auf der Höhe seiner Zeit angekommen ist, und nur in seltenen Einzelfällen, dass er sich bereits der nächsten Entwicklungsstufe annähere. Der gesunde Menschenverstand ist demnach das Band zwischen der alten und der neuen Harmonie zur Welt, und dazwischen steht als aktuelle Normalität der ungesunde Menschenverstand, den man ebensogut Wahnsinn oder Irrsinn nennen könnte. Niemand darf darum überrascht sein, den Wahnsinn und Irrsinn überall als Normalität anzutreffen. Nur weil neuere und ältere Lebensformen gleichzeitig existieren, gibt es hinzu auch den gesunden Menschenverstand. Mit vollem Recht bezeichnet sich darum der ungesunde Menschenverstand als Normalität, und empfindet den gesunden Menschenverstand, egal von welcher Seite er kommt, aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft, als Bedrohung seines gewohnten Lebensgefühles. So wie die Menschenseele seit dem 15. Jahrhundert mittels des natürlichen Leibes in die Welt hineingestellt wird, hat sie zunächst keine andere Wahl, als das vorgefundene Verhältnis zwischen ihrem Leib und der Umwelt als die einzig mögliche Welt vorzustellen. Da der heutige Mensch sich allein seiner leiblichen Sinne bedienen kann, ist sein naturgegebenes Verhältnis zur Welt das einzige ihm bekannte und ein gesunder Verstand kann zunächst ausschließlich über dieses Verhältnis nachdenken. Alle Begriffe, die sich aus diesem rein natürlichen Verhältnis ergeben, sind dem gesunden Menschenverstand zuzuordnen. Gesund ist diese Art von Verstand deshalb, weil sie die gegebene Harmonie zwischen Leib und Umwelt nicht störend beeinflusst. Sie fügt dem gegebenen Verhältnis nichts hinzu, was in diesem Verhältnis nicht schon bereits enthalten wäre. Aus der bewussten Empfindung dieses gesunden Zustandes entsteht im Gemüt der Menschenseele eine Tendenz zum Konservatismus. Die Seele bemerkt, dass das Gegebene ihr leibliches Wohlbefinden stärkt und erhält. Ein wichtiger Teilbereich der konservativen Seelenhaltung ist die Religion. Ohne das Vorhandensein von Religion könnte die Seele in einem rein natürlichen Verhältnis zur Welt nicht zur Ruhe kommen, weil der natürliche Leib nicht unsterblich ist. Das natürliche Leben hat einen Beginn und einen Ende, aber die Seele kann sich nicht als ein Wesen mit einem Ende vorstellen, ohne dadurch in Beunruhigung zu geraten. Durch die Religion erscheint in ihrem gewöhnlichen Sinnesleben ein Wahrnehmungsbereich, der diese Sorgen der Seele beruhigen kann. Über das Christentum wird von einer solchen konservativen Seele nicht anders nachgedacht als über alle anderen sinnlich gegebenen Wahrnehmungen. Damit dies geschehen konnte, hat der Christus einmal sinnlich wahrnehmbar als Jesus erscheinen müssen. Andere Religionen stützen sich ebenso auf das Wahrnehmbare. Der besondere Anspruch an den Verstand entsteht beim Christentum dadurch, dass Jesus Christus als Einheit von natürlichem Mensch und übersinnlichem Gott verstanden werden will. Jesus Christus weisst nicht nur auf eine höhere Wirklichkeit hin, die jenseits von Geburt und Tod anzusiedeln ist, sondern er ist jene Wirklichkeit als Person. Der Menschenverstand wird also durch das Christentum dazu herausgefordert, über dieses intime Verhältnis zwischen Mensch und Gott nachzudenken. In anderen Religionen kann der Gläubige seinen Gott problemlos außerhalb seines Selbst lokalisieren. Der christliche Gläubige kann dies nicht ohne weiteres tun, weil die Evangelien darauf hindeuten, dass die Einheit von Mensch und Gott, die sich in Jesus Christus geschichtlich einmal wahrnehmbar gezeigt hat, durchaus als Vorbild für alle Menschen gemeint war. Der Christ darf also durchaus auf ein intimes Verhältnis zu seinem Gott hoffen, das sich nicht nur auf seine Seele beschränkt, sondern auch seinen Leib erfassen kann. Dadurch entsteht für den christlichen Verstand die Frage: wo ist mein Gott, wenn ich mich mit ihm verbinden darf? Wie soll ich ihn anreden, wenn er mir so nahe kommt, dass ich mich mit ihm vereinen kann? Jesus Christus hat darauf selbst die Antwort gegeben: Ich bin der Ich bin. Es muss der christliche Verstand also soweit kommen, einzusehen, dass er als wahrer Christ seinen Gott als sein eigenes Ich anreden muss. Die große Gefahr, die daraus entstehen kann, ist offensichtlich: der Mensch kann dem Irrtum verfallen, das gewöhnliche Ich-Bewusstsein, das durch das Leben im Leib entsteht, sei bereits das göttliche Ich. Er würde dann im gewöhnlichen Bewusstsein versucht sein zu sagen: Ich bin Gott. Durch den vorigen Zustand bedingt, tut er das allerdings eher selten. Dieser Gedanke bleibt meist ihm Unterbewusstsein, zeigt dort aber trotzdem seine starke Wirkung. Aus dem gewöhnlichen Ich-Bewusstsein heraus zu denken: Ich bin Gott - ist nicht anders ist als zu denken: Es gibt keinen Gott, es gibt nichts Höheres als diese Wirklichkeit, die sich mir mittels meiner physischen Sinne darbietet. Durch eine solche Vorstellungsart gerät der Mensch jedoch in den Machtbereich der Angst, denn er kennt ja weder den Ursprung dieser einzig ihm bekannten Wirklichkeit, noch ist er fähig, sich als Wesen innerhalb dieser Wirklichkeit auf Dauer zu erhalten. Durch den Einfluss dieser alles durchdringenden Angst verliert der menschliche Verstand in steigendem Maße seine Gesundheit. Das Denken des Menschen wird immer weniger geeignet, sein Wohlbefinden aufrecht zu erhalten, es wird eben ungesund. Der menschliche Verstand fügt durch dieses ungesunde Denken der gegebenen Wirklichkeit Begriffe hinzu, denen keine Wahrnehmungen entsprechen. Der so ausgerichtete Mensch fühlt sich gezwungen, in die Wirklichkeit Begriffe hineinzudenken, die dort gar nicht vorhanden sind, wie z.B die Materie selbst, die dem Materialist ja als sicherster Garant seiner Vorstellungswelt dienen sollte. Dabei glaubt er jedoch, genau das Gegenteil zu tun. Er glaubt, naturwissenschaftlich zu denken und sich nur streng an die Tatsachen zu halten, die er mittels seiner Sinne erfahren kann. Er ist dabei ganz besonders stolz darauf, die alten religiösen Vorstellungen ganz von sich zu weisen. Durch diese Vorgehensweise gewöhnt sich sein Verstand daran, in immer mehr Bereichen wirklichkeitsfremd zu denken, was dazu führt, dass die ehemalige Harmonie zwischen dem Mensch und seiner Umwelt immer mehr gestört wird. Obwohl sein Gemüt während dieser Entwicklung immer kränker und kränker wird, will er von den alten Vorstellungen des gesunden Menschenverstandes nichts mehr hören. Sie gelten ihm entweder als Kinderkram oder als von machthungrigen Menschen in die Welt gesetzte Lügen. Wie aber ist der menschliche Verstand in diese außergewöhnliche Lage gekommen, sich selbst aus der Wirklichkeit heraus zu treiben? Das konnte nur dadurch geschehen, weil der gewöhnliche gesunde menschliche Verstand überraschend mit der Tatsache des Christus-Ereignisses konfrontiert wurde, ohne darauf vorbereitet zu sein. Gerade der aus der vorigen Kulturepoche mitgebrachte gesunde Menschenverstand konnte nämlich am allerwenigsten mit dem Christus-Ereignis umgehen. Die konservative Seelenhaltung ist darauf aufgebaut, dem Gegebenen nichts Eigenes hinzu zu fügen, weil man sein eigenes Wesen gar nicht in sich selbst lokalisiert, sondern sich selbst nur als Teil eines Ganzen verstehen kann. Diese Haltung war allerdings wahr und darum heilbringend bis zum Mysterium von Golgatha. Nun aber verband sich jenes innerste Wesen des Menschen mit dem gewöhnlichen Bewusstsein, in dem es als natürlicher Mensch auf der Erde wandelte und den natürlichen Leib mittels Tod und Auferstehung vergeistigte. Was der gesunde Menschenverstand bis dahin im vor- und nachgeburtlichen Leben lokalisieren konnte, wurde potenzieller Teil seiner gegenwärtigen Wirklichkeit. Wer das Christus-Ereignis wirklich verstehen wollte, der musste vor sich selbst zugeben, dass der Schöpfer der Welt ab jetzt nur noch als Ich-Erlebnis auf der Erde gefunden werden konnte. Dieser Gedanke widersprach jedoch diametral allem, was jemals zuvor als gut und wahr gegolten hatte, und wurde darum besonders von allen frommen und gottesfürchtigen menschlichen Seelen ins Unterbewusstsein gedrängt. Um die Entwicklung des Christentum zu verstehen, muss man darum seine Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die letzte Konsequenz des Christus-Ereignisses eigentlich vom gesunden Menschenverstand mit nur ganz wenigen gedanklichen Schritten relativ leicht einzusehen ist, und gerade deshalb ins tiefste Unterbewusstsein hinuntergestoßen wurde. Der gesunde Menschenverstand, der vom Evangelium berichtet bekommt, versteht zunächst sofort, worum es geht: Der Schöpfer hat sich mit seiner Schöpfung verbunden, ich aber bin diese Schöpfung, darum ist mein Ich jetzt identisch mit dem Ich des Schöpfers. Sein gesundes Verhältnis zur Wirklichkeit lässt ihn aber gleich im nächsten Moment ebenso erkennen: Es ist unmöglich, dass ich der Schöpfer dieser Welt und meiner selbst bin, weil ich weder mich selbst noch die Welt verstehe. Würde sich der gesunde Menschenverstand trauen, an diesem Punkt weiterzudenken, dann müsste er zu dem Schluss kommen: Was mich als dieser Einzelmensch vom Schöpfer der Welt und somit von meinem wahren Selbst unterscheidet, ist der Mangel an Wissen. Ich kann nur deshalb nicht in wahrem Sinne “Ich bin” sagen, weil ich mir der heilige Geist fehlt, also das vollständige Wissen vom Menschen und seiner Welt. Diese beiden gesunden Gedankengänge, die Erkenntnis der eigenen Göttlichkeit und die Erkenntnis des eigenen Mangels, könnten theoretisch direkt aufeinander folgen, liegen aber in der Praxis weit auseinander. Was sich dazwischen drängt, sind zwei prinzipielle Irrtümer. Der erste Irrtum ist jener des konfessionellen Christen, welcher das Christus-Ereignis einfach als einmalige historische Erscheinung in sein gewöhnliches Vorstellungsleben einbaut, ohne dabei einen fundamentalen Gemütswandel durchzumachen. Der zweite Irrtum ist jener des Atheisten, in dessen Gemüt der Christus-Impuls paradoxerweise nicht selten stärker wirkt als im konfessionellen Christen, der aber aufgrund seines eigenen Wissensmangel den Schluss zieht, es könne keinen schöpferischen Geist geben und der damit auch den Christus verleugnet, also jenes Geistwesen, ohne dessen rettenden Eingriff in die Welt er selbst niemals ein Atheist hätte werden können. Der konfessionelle Christ bleibt im Gemüt vorchristlich, der Atheist verliert sich in unendlichen intellektuellen Widersprüchen. Dadurch dass der konfessionelle Christ den Christus auf vorchristliche Weise anbetet, bleibt ihm der altbewährte gesunde Menschenverstand aber in hohem Grade erhalten. Das Christentum kann er hingegen nur mit dem Gefühl erfassen. Dort stellt sich ihm sein naiver Verstand, der sich nur auf die gewöhnliche Sinnenwelt stützen will, als Hindernis entgegen. Der Atheist hingegen erlebt den Christus-Impuls als unterbewussten Gemütswandel und wendet sich gerade deshalb vom konfessionellen Christentum und von allem geistigen Wissen ab. Sein kritischer Verstand wird ungesund und wirklichkeitsfremd. Gerade dadurch schafft sich der Atheist aber die Basis dafür, um später mit Hilfe seiner abstrakten Verstandesbegriffe auf ganz neue Art in die geistige Welt eindringen zu können. Letzteres wäre hingegen nicht möglich nur mit Hilfe jener Verstandeskräfte, die dem Menschen durch ein gesundes Verhältnis zur Natur gegeben werden. Gerade das Wirklichkeitsfremde seiner Gedanken schafft ihm den nötigen Freiraum für ein ganz neues Verhältnis zur geistigen Welt. Zu einer Wiedereroberung des gesunden Menschenverstandes auf höherer Ebene kann der Atheist letztendlich aber nur dadurch gelangen, dass der heilige Geist ihm hilfreich entgegen kommt, indem er innerhalb der gewöhnlichen Sinnenwelt als Anthroposophie erschienen ist. Ohne die Hilfe der Anthroposophie endet der ungesund gewordene Menschenverstand in einer Sackgasse. Ein kontinuierlicher Übergang vom alten gesunden Menschenverstand zur Anthroposophie wäre theoretisch nur dann möglich, wenn die Welt ganz frei von Lügen wäre. Doch die Lügen gibt es ja aus einem guten Grund: gerade dadurch, dass der Mensch sich temporär vom gesunden Menschenverstand entfernt, kann er sein Ich-Bewusstsein stark genug entwickeln, um überhaupt auf den Kernpunkt des Christentums eingehen zu können. Ohne die Stärkung des Ich-Bewusstseins durch den Materialismus würde der Mensch nur sehr schwer von seinem Gruppenseelenleben loskommen können. Damit soll aber nicht gesagt sein, das letzteres ganz unmöglich wäre. Indem man also die Macht der Lüge in der Welt abdämpft, verringert man den Abstand zwischen den zwei Formen des gesunden Menschenverstandes, also zwischen dem alten gesunden Verhältnis zur Natur und dem neuen gesunden Verhältnis zum heiligen Geist. Dadurch werden die Irrwege, die dazwischen liegen müssen, weniger gefährlich. Da es sowieso unmöglich ist, die Lüge ganz aus der Welt zu verdrängen, kann man also durchaus in dieser Richtung arbeiten, ohne sich gleich Sorgen machen zu müssen, den Irrtum als nötigen Erzieher zu verlieren. Irrtümer geschehen trotzdem noch genügend, auch wenn die Macht der Lüge eingeschränkt wird. Die Lüge ist schließlich nicht das einzige Hindernis, dass sich dem Verstand in den Weg legt. Nachdem wir uns also bewusst gemacht haben, dass der ungesunde Menschenverstand durchaus normal ist, können wir jetzt daran gehen, uns zu überlegen, wie man mit dieser Normalität am Besten umgehen könne. Der ungesunde Zustand ist zwar normal, aber ist da, um geheilt zu werden. Solange das normale Bewusstsein des Menschen das gegenständliche, wache Tagesbewusstsein ist, kann es letztendlich bei der Heilung des ungesunden Menschenverstandes nur darum gehen, den Mensch in die Gegenwart zurückzuführen. Dieser Zustand ähnelt dem Zustand, in dem er vor dem Krankwerden gestanden war, als er noch den naiven gesunden Menschenverstand besaß. Damit man aber von einem Fortschritt sprechen darf, muss in dieser Gegenwart jetzt auch er selbst als Ich vorhanden sein. Das Ich ist aber nichts anderes als eben der Schöpfer alles Gegenwärtigen. In sich selbst als Einzelmensch muss er also den Schöpfer alles Gegenwärtigen finden. Dabei wird ihm allerdings bewusst, wie wenig er als Einzelmensch bisher diesem Kriterium entspricht. Er kann verstehen lernen, dass er als Einzelmensch vielmehr die Organisation liefert, in der ein Ich leben kann, ohne dass er bereits das Ich selbst wäre. Der neu zu erobernde, gesunde Menschenverstand kann also nur darin bestehen, sich selbst als Ich-Organisation innerhalb der gegebenen Natur erleben zu können. Man steht selbst als Ich-Organisation inmitten des Gegebenen und ist sich als solche Ich-Organisation bewusst, dass der Ursprung alles Gegebenen als Ich in der Ich-Organisation, die man selbst ist, lebt. Der gesunde Menschenverstand kann diese Situation begreifen, ohne sich in Widersprüchlichkeiten zu verwickeln. Seine Aufgabe als gesunder Mensch besteht darin, die Ich-Organisation so zu erhalten, damit sich die Vereinigung des Christus mit ihm als Einzelmensch vollziehen könne. Während dieses Vorganges steht die Seele zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite ist die Seele selbst Produkt des Gegebenen, auf der anderen Seite entdeckt sie als ihr ureigenstes Wesen den Schöpfer alles Gegebenen. Gesund kann ein Menschenverstand unter diesen Umständen nur bleiben, wenn er beginnt, die Schöpfung zu verstehen. Nur durch den heiligen Geist kann er zu dem werden, was sein ureigenstes Wesen ist. Die Seele als Ganze wandelt sich auf diesem Weg also vom Geschöpf zum Schöpfer. Der allererste Zustand der Kreatürlichkeit kann darum so, wie man ihn als naiver Mensch mit seinem natürlich gegebenen gesunden Menschenverstand erlebt, nicht ewig erhalten bleiben. Es durchaus nötig, dass dieser Zustand sterbe. Der Mensch muss sich freiwillig dazu durchringen können, diesen allerersten Zustand aufzugeben. Die Seele kann dieses Sterben als Kreatur vollbringen, indem sie sich mit dem Christus vereint, der selbst der Ursprung aller Kreatürlichkeit ist. Diese Vereinigung kann aber nur wahr werden durch den heiligen Geist. Mit Hilfe des heiligen Geistes wird der Mensch zum Ich, und somit zum freien Schöpfer seiner eigenen Kreatürlichkeit. Dabei darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass derselbe Vorgang vielfach voranschreitet, weil der Christus sich mit allen Menschen vereinen will. Im natürlichen Umfelde kann man also erwarten, auf die verschiedensten Grade dieser Entwicklung zu stoßen. Das beinhaltet, dass auch der höchste Grad bereits von einem Mensch erreicht worden sein könnte. Wenn wir nun in Betracht zieht, dass im Grunde alles, was wir durch der Anthroposophie wissen, von Rudolf Steiner stammt, dann ist es der Gedanke, bei Rudolf Steiner diese schöpferische Gegenwart bereits verwirklichte Tatsache anzunehmen, gar nicht so fern. Wäre nun ein Mensch wie Rudolf Steiner bereits zum Status eines Schöpfers seiner eigenen Kreatürlichkeit aufgestiegen ist, müsste sich der gesunde Menschenverstand unweigerlich fragen: Wie weit reicht diese Kreatürlichkeit? Ist das Wesen eines Ich-Menschen weiterhin innerhalb der Haut des natürlichen Leibes eingeschlossen, oder ist es vielmehr identisch mit der gesamten Welt? Aus der Anthroposophie können wir entnehmen, das beides gültig ist. Der vollendete Ich-Mensch ist aus freier Entscheidung ein Mensch wie alle anderen, doch sein Wesen ist identisch mit der gesamten Schöpfung. Es stünde also da tatsächlich ein Mensch vor uns, der als Einzelmensch der Schöpfer desselben Ganzen ist, dem wir auch selbst angehören. Wir könnten also hier den Christus wieder aus uns selbst hinaus verlagern, und ihn in seiner individualisierten Form als die gegebene Welt selbst anbeten. Was uns vorher als Universum umgab, stünde jetzt als ein Einzelmensch vor uns. Das alte naive Verhältnis zwischen Kreatur und Schöpfer wäre dadurch auf höherer Ebene wieder hergestellt. Allerdings hätten wir uns dadurch wieder einmal in den vorchristlichen Zustand versetzt! Es ginge also auch bei einer Begegnung mit dem individualisierten Christus darum, ihn als unser Ich zu entdecken, und nicht darum, ihn in seiner natürlichen Form anzubeten. Dasselbe muss in Zukunft für jedes Individuum gelten, das zum Ich-Menschen wird. Es geht nicht darum, jene Individuen in einem durch die Sinne gegebenen Ort aufzusuchen, sondern sie in uns selbst als unser Ich zu finden, wodurch wir erst selbst zu einem solchen Individuum werden können. Es wird dann der Mensch als Ich-Mensch keiner gegebenen natürlichen Welt mehr gegenüber stehen, sondern er ist dann selbst Individuum in seiner eigenen Welt, welche aber keine andere Welt ist, als eben die Welt des Heiligen Geistes. Die Frage nach dem ursprünglichen Denker dieses heiligen Geistes liegt jenseits des gesunden Menschenverstandes. Erst die Entwicklung der Bewusstseinsseele wird diese Frage wohl beantworten können. Nicht um eine absolute Wissensgrenze handelt es sich also, sondern um eine absolute Verstandesgrenze. Jenseits der Kreatürlichkeit hat der Verstand, als Erschaffer von Wahrheiten, die Schöpfer mit Geschöpf verbinden, keine Aufgabe mehr. Der gesunde Menschenverstand, als Wahrheitsquelle, ist auf jeder Ebene der Garant für das korrekte Verhältnis zwischen Kreatur und Schöpfer. Angesichts des Vatergottes ist der gesunde Menschenverstand in der einfachsten Lage, weil er hierbei nur auf natürliche Weise dasein muss, um wahr zu sein. Angesichts des Sohnesgottes gerät er in schwerste Schwierigkeiten, weil er so wie er bisher war, sterben muss. Angesichts des heiligen Geistes kann er wieder auferstehen. Bei voller Erhaltung der Gesundheit können alle drei Phasen gleichzeitig gelebt werden. Die Krankheit des Verstandes entsteht nur dann, wenn er sich weigert, angesichts des Sohnesgottes zu sterben. Diese Verweigerung kann sich in jedem Moment geltend machen, bis das Werk vollbracht ist. Zum Sterbensprozess gehört darum auch, dass der gesunde Menschenverstand sich selbst eine oberste Grenze setzt. Er kann sich nicht in alle Ewigkeit hineinprojizieren. Er muss seinen eigenen Tod als Wirkungsgrenze akzeptieren, die er nicht überschreiten will. Was denn würde es bedeuten, wenn der gesunde Menschenverstand nicht sterben wollte? Dann würde die Kreatur versuchen, die Schöpfung von außen zu betrachten. also sozusagen dem Schöpfer gegenüber eine kritische Haltung einnehmen. Damit soll nicht gesagt sein, dass eine solche Haltung absolut ausgeschlossen sei! Es muss der gesunde Menschenverstand aber einsehen, dass eine solche Haltung zunächst nicht dazu beitragen kann, einen Kosmos der Liebe zu schaffen. Was von uns verlangt wird, ist demnach zunächst diese Welt zu verstehen und ihren Schöpfer zu lieben. Was sich daran noch anknüpfen könnte, liegt jenseits unsere gesunden Menschenverstandes.
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