Die Anthroposophie ist der Weltgedanke. Die Welt ist ein lebendiger Gedanke. Der lebendige Gedanke ist der Sohn. Der Sohn heisst Christus. Christus ist das Ganze. Christus ist die Welt als lebender Gedanke.
Ein lebender Gedanke ist kein gedachter Gedanke. Ein lebender Gedanke denkt. Nicht jeder Gedanke denkt. Nicht jeder Gedanke lebt. Die lebendigen Gedanken stoßen sich an den leblosen Gedanken. Die lebendigen Gedanken denken die leblosen Gedanken. Die Welt spiegelt sich in dem, was sie nicht ist. Indem die Welt sich spiegelt, entsteht Bewusstsein von dem, was sie ist. Der Sohn formt den Spiegel gemäß dieses Bewusstseins. Die leblosen Gedanken nehmen die Wesensform des Sohnes an. Der Sohn ist das Leben und das Leben kann nicht leblos sein. Das Leblose kann die Wesensform des Sohnes nicht als Ganzheit spiegeln. Die Zeit muss geboren werden, damit sich das Leben im Leblosen spiegeln kann. Was in der Zeit nacheinander geschieht, ist im lebendigen Weltgedanken ewig. Nichts vergeht. Weil nichts vergeht, entsteht der Raum. Das Nacheinander wird zum Nebeneinander. Aus der Einheit des Lebens wird die Vielfalt des gespiegelten Lebens. Der lebendige Weltgedanke spiegelt sich in Zeit und Raum, er formt den Spiegel vielfältig. Die Wesensform des Sohnes vervielfältigt sich in Körpern, die gemäß des Ganzen geformt sind. Der Sohn denkt sich selbst in der Vielfältigkeit der Körper, die sein Wesen spiegeln. Indem der Sohn sich selbst in den vielfältigen Spiegeln seiner Wesensform denkt, werden die leblosen Spiegel mit Leben begabt. Das Leblose wird vom Leben ergriffen, aber es bleibt ein Körper. Ein Körper kann nicht das Ganze sein. Wenn der Körper zum Leben erwacht, dann erlebt das Ganze sich als Teil. Jedes Teil ist ein Ganzes im Ganzen: der Sohn entdeckt sich selbst als Seele. Die Seele des Sohnes lebt in der Vielfältigkeit der Seelen. Die Vielfältigkeit der Seelen kann zunächst ohne die Vielfältigkeit der Körper nicht sein. Der Sohn erkennt sich als Seele, aber noch nicht als Weltgedanke. Der ganzheitliche Weltgedanke heißt heiliger Geist. Damit die Seele sich als heiliger Geist erkennen könne, muss das Teil zum Ganzen werden. Darum strömt die Sehnsucht des Sohnes zu den Körpern. Der Sohn will sich selbst in einer Einzelseele als heiligen Geist finden. Die Seelen verlassen darum nach und nach das Ganze und verbinden sich mit den Körpern. Der heilige Geist bleibt zunächst zurück. Der heilige Geist bleibt das Ganze. In den Seelen lebt vielfältig der Sohn und sehnt sich nach sich selbst als Geist. Als heiliger Geist ist er nur außerhalb der Seelen, aber er kann sich außerhalb der Seelen nicht als sich selbst erleben. Weil der Weltgedanke in den Seelen lebt, wird neuer Geist geboren. Der neue Geist kann nicht das Ganze sein. Der neue Geist, der nicht das Ganze sein kann, ist der Mensch. Der Mensch ist Körper, Seele und Geist. Als Körper ist er gemäß des Ganzen geformt, als Seele ist er das Wesen des Sohnes, als Geist ist er Sehnsucht nach sich selbst. Aber es gibt sein Selbst noch nicht. Der Mensch wird erst zum Selbst, wenn der Geist des Teiles sich mit dem Geist des Ganzen vereint. Diese Verbindung heißt Ich. Damit der Mensch ein Ich werden könne, darum hat der Christus, als lebendiger Weltgedanke, sich mit einem Körper, des Jesus, verbunden. Der Weltgedanke musste als Körper, der mit dem Leblosen verbunden ist, sterben. Aber ein neuer Körper, der nicht mit dem Leblosen verbunden ist, konnte dadurch aus dem Grab auferstehen. Der Jesus Christus schuf sich selbst neu als unsterblichen Körper. Dieser unsterbliche Körper ist seither neben den sterblichen Körpern vorhanden. Es ist ein Körper, der nur aus lebendigen Gedanken besteht. Es kann also kein gedachter Körper sein. Es ist ein Körper, der sich selbst denkt. Damit der menschliche Geist sich diesen Körper denken kann, muss der neue Geist, der aus jeder einzelnen Seele strömt, sich mit dem heiligen Geist vereinen. Der Sohn, der sich als Seele erlebt, muss sich selbst als Welt denken. Er findet die Kraft dazu in dem Weltgedanken selbst, der sich ihm in der Anthroposophie offenbart. Die Anthroposophie ist von einem Menschen gedacht worden: von Rudolf Steiner. Rudolf Steiner denkt den Weltgedanken und ist deshalb Ich. In der Seele Rudolf Steiners findet sich der Sohn als Geist. Der Teil wird zum Ganzen. Der Sohn erkennt den Vater. Der Sohn ist sich selbst der Vater. Vater, Sohn und heiliger Geist sind Eins. Wo ist die Vielfalt geblieben? Die Vielfalt kann es erst geben, wenn wir Seelen sie erschaffen. Die Anthroposophie ist der Weltgedanke. Indem wir diesen Weltgedanken denken lernen, werden wir selbst zu einer neuen Welt. Dabei wird uns bewusst: Leben und Einheit sind dasselbe. Es gibt kein Leben ohne Einheit. Alle neuen Welten müssen eins sein, weil das Lebens eins ist. Es reicht also nicht aus, ein Ich zu werden. Die Seele muss lernen, mit jedem anderen Ich eins zu sein. Diese neue Fähigkeit, die der ich-werdende Mensch lernen muss, ist die Liebe. Ohne Liebe darf es keine Ich-Werdung geben. Gibt es trotzdem Ich-Werdung ohne Liebe, dann werden daraus neue leblose Gedanken. Neue leblose Gedanken, die uns selbst zum Spiegel werden können. Der erste Ich-Mensch, auf den wir ich-werdenden Seelen stoßen, ist Rudolf Steiner selbst. Es präsentiert sich uns kein anderes Ich in der Welt. Statt theoretisch andere Ich-Menschen zu lieben, kann die Liebesübung sofort mit Rudolf Steiner beginnen. Die Einheit alles Lebens kann kein Ich ausschließen, darum auch nicht Rudolf Steiner. Wer Rudolf Steiner nicht lieben kann, wird das Leben auch in keiner anderen Liebe finden. Bei dem Versuch, Rudolf Steiner zu lieben, entdecken wir, wie sehr wir von ihm verschieden sind. Wir bemerken, dass uns der Heilige Geist fehlt. Wir erkennen uns als neue Geister, die nur aus Sehnsucht nach dem Ich bestehen. Die Sehnsucht nach dem Ich, der Egoismus, ist uns zum eigenen Wesen geworden. Dieses neue Wesen, das wir selbst sind, stellt sich in der Seele dem Christus entgegen. Aber der Christus bietet uns keinen Widerstand. Er bietet uns an, in ihm zu sterben, um als Ich aufzuerstehen. Wir können wählen, reine Sehnsucht zu bleiben, aber wir können die Sehnsucht nicht erfüllen, ohne in Christus zu sterben. In Christus zu sterben heißt, die Einheit des Lebens zu akzeptieren. Nur in der Einheit kann der neue Geist, der wir sind, selbst zu ewigem Leben erwachen. Jenseits des Lebens gibt es kein Leben. Was jenseits des Lebens ist, sollten wir besser verstehen, als jedes anderes Wesen: wir sind es selbst, bevor wir in Christus sterben. Unser ureigenstes Wesen ist darum tatsächlich neu. Der Sohn schafft sich selbst als Neue Wesen. Rudolf Steiner ist der erstgeborene Sich-Selbst-gebärende. Indem wir die Anthroposophie studieren, stärken wir in unserer Seele das einzige Ich, das uns bekannt ist: Rudolf Steiner. Aber der Christus unterscheidet nicht zwischen uns, als Ego, und dem Ich, das wir als Rudolf Steiner kennenlernen. Es gibt keinen Christus außerhalb unserer eigenen Seele. Daher kann ein Mensch, der den Christus nicht in der eigenen Seele findet, den Christus nirgendwo finden. Der Christus ist Mensch geworden und es gibt ihn darum nur noch als Mensch. Die Sehnsucht nach dem Ich und das Ich sind eins im Menschen, auch wenn sie sich wie zwei verschiedene Wesen gegenüberstehen. Jede Stärkung des Ich stärkt darum auch das Ego. Die Sehnsucht nach dem Ich, der Egoismus, wird durch die Anthroposophie nicht schwächer, sondern stärker. Allerdings findet das Ego in der Anthroposophie gleichzeitig die Lösung, wie es seine tiefste Sehnsucht erfüllen kann. Da die Lösung innerhalb der Zeit gefunden werden muss, sollte es niemanden verwundern, unter den Anthroposophen auch außergewöhnlich starke Egoisten zu finden. Die intensive Beschäftigung mit dem Weltgedanken führt dazu, dass das Ego die Welt als sein Selbst erlebt. Das Ego nimmt am Ich-Leben teil, noch bevor es selbst Ich geworden ist. Die Einheit allen Lebens wird bereits vom Standpunkt des Teiles aus erahnt. Der Teil ahnt sich als das Ganze, ohne schon das Ganze zu sein. In der Welt erscheint dies als Hochmut und Arroganz. Ohne den egozentrischen Standpunkt, der durch den einzelnen Körper vorgegeben wird, zu überwinden, kann dieses Problem nicht gelöst werden. Anthroposoph sein heißt: an diesem Problem zu arbeiten. Wer nicht Anthroposoph ist, erlebt das Ich anders. Als Rudolf Steiner kann es ihm dann noch nicht erscheinen. Vor dem Zusammentreffen mit der Anthroposophie kann das Ich eigentlich nur dann erlebt werden, wenn es in einem vorigen Leben bereits durch Einweihung gestärkt worden ist. Ohne vorangegangene Einweihung kann in der Seele kein individuelles Ich vorhanden sein. Das Ich-Bewusstsein wird allein durch den Körper erzeugt und äußert sich als astralisches Ego. Doch lebt in jeder Seele der Christus als Weltenseele. Indem das Ego sich der Weltenseele liebend zuwendet, weil es sich von ihm die Erlösung von seinem Leiden erwarten darf, kann der Christus den egoistischen Blickpunkt erweitern. Fühlen, Denken und Wollen werden durch den Christus zu einer Erweiterung des Seelenlebens angeregt. Durch diese Erweiterung ins Überpersönliche gelangt die Seele letztendlich bis zur Anthroposophie, wo sie dem Überpersönlichen als Weltgedanke gegenübersteht. Sich dem Christus innerhalb der eigenen Seele zuwenden bedeutet also: sich der Weltenseele zuwenden, wie sie in uns allen lebt. Sich der Anthroposophie zuwenden bedeutet: die Weltenseele als individualisierten Weltengedanken des Neuen Menschen kennenlernen, der bereits ist, was wir selbst noch werden müssen. Während der Christus die uns alle einend tragende, seelisch-geistige Wesenheit ist, ist Rudolf Steiner also durchaus ein Anderer. Wir begegnen in Rudolf Steiner jener Christus-Wesenheit, die unser intimstes Selbst ist, als andere Person. Damit erklärt sich sofort, wieso nicht jeder innige Christ sich auch gerne mit der Anthroposophie beschäftigen möchte. Die Anthroposophie ist eine ganz außergewöhnliche Herausforderung an unsere Liebesfähigkeit, weil wir hier tatsächlich einen Anderen Menschen lieben sollen.
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Ist die Vorstellung des big bang nicht eine sehr ungewöhnliche Vorstellung?
Die Geburt als Explosion…. Nirgendwo ist in der Welt eine solche Form von Geburt zu beobachten, und doch soll die Welt als Ganze geradeso so entstanden sein. Während überall die Explosion zum Tode führt, soll in diesem Fall eine Explosion der Ursprung alles Bestehenden sein. Die Vorstellung der Naturwissenschaft will hier also einen Tod zeitlich an den Anfang setzen, und aus diesem Tod soll später alles Leben entstanden sein. Wie ist es möglich, dass sich so viele Seelen mit einer solchen Erklärung zufrieden geben? Ein Grund ist zweifellos, dass die allermeisten Seelen nie darüber nachdenken. Aber auch sehr viele jener, die sich in die Ideen der Naturwissenschaft vertiefen, finden sich mit dieser Vorstellung zurecht und finden sogar Gefallen an ihr. Die Vorstellung vom big bang ist eine perfekte Umkehrung der christlichen Idee von Tod und Auferstehung. Sie erlaubt der Seele, die nicht gründlich nachdenkt, die Illusion, sich Materialismus und ewiges Leben als eine mögliche Einheit vorzustellen. Diese Vorstellung beruhigt die Seele. Warum aber ist es der Seele so wichtig, Materialismus und ewiges Leben als vereinbar denken zu können? Obwohl sie das Leben nicht versteht, ist die Seele sich doch zunächst ganz sicher, dass sie selbst dieses Leben ist: denn sie kann sich ganz eindeutig von allem Leblosen unterscheiden. Gleichzeitig glaubt sie zu bemerken, wie stark sie vom Leblosen abhängt, um leben zu können. Dieser intensive Eindruck einer Abhängigkeit vom Leblosen hat jedoch viel mehr mit dem Bewusstsein vom Leben zu tun, als mit dem Leben selbst. Die Seele wird sich ihres Lebens bewusst, weil sie in einem sterblichen Leib lebt. Die Seele identifiziert ihr eigenes Leben mit dem Leben des Leibes, weil dies ihre gegenwärtigen Beobachtungen bestätigt. Jenseits einer Leiblichkeit kann die Seele nirgendwo Leben entdecken, weder bei sich selbst, noch bei anderen Lebewesen. Der Leib erscheint wie eine Grundvoraussetzung für das Leben, obwohl er eigentlich nur die Grundvoraussetzung für das Bewusstsein vom Leben ist. Ihr Selbstbewusstsein gewinnt die Seele gerade deshalb, weil der Leib nicht nur Leben, sondern auch Tod ist. Das Selbstbewusstsein erwacht am Anderen, am Verschiedenen, und das Andere ist der Tod. Die Seele hat mit dem Tod ursprünglich nichts gemeinsam, und erkennt sich darum selbst angesichts eines sterblichen Leibes, an den sie schicksalshaft gebunden ist. Sie bemerkt an sich und an anderen Menschen, dass sie sich nicht ohne weiteres von jenem Leib loslösen kann, ohne ihr Selbstbewusstsein zu verlieren. Doch sie beobachtet an Pflanzen und Tieren, dass es auch Leben geben kann, das nicht dasselbe Selbstbewusstsein besitzt. Auch bei Pflanzen und Tieren meint sie Leben und Tod als etwas beobachten zu können, das mit dem Leib untrennbar verbunden ist. Es erscheint ihr offensichtlich, dass es kein Leben ohne einen Leib geben könne. Woher kommt dieser Irrtum? Dass die Seele sich ihres eigenen Lebens zum ersten Mal mit Hilfe eines sterblichen menschlichen Leibes bewusst wird, hat nicht etwa zur Folge, dass die Seele das Leben selbst erkenne. Und weil die Seele das Leben als solches nicht erkennen kann, identifiziert sie das Leben mit einer Leiblichkeit, welche Anzeichen von Lebendigkeit an sich trägt. Die Seele verwechselt die Lebendigkeit mit dem Leben selbst. Zweifellos sind Pflanze, Tier und Mensch lebendig im Gegensatz zum Mineral. Von lebendigen Steinen phantasieren nur sehr Wenige, obwohl solche Phantasien nicht unterschätzt werden dürfen. Pflanze, Tier und Mensch geben Anzeichen von Lebendigkeit, die man bei leblosem Stoff normalerweise nicht beobachten kann. Diese Anzeichen von Lebendigkeit erinnern die Seele an das, was sie selbst als ihr eigenes Leben erlebt. Sie glaubt darum, ihr eigenes Leben sei ebenso eine Fortentwicklung derselben Lebendigkeit, welche sie in der restlichen Natur beobachten kann. Sie glaubt, ihr Fühlen, Denken und Wollen sei nur eine höhere Form jener Lebendigkeit, die sie bei Pflanzen und Tieren beobachten kann. Da die Seele aber ihr eigenes Fühlen, Denken und Wollen genauso wenig versteht, wie ihr eigenes Leben, kann sie sich ihre eigenen Fähigkeiten nicht unabhängig von einem Leib vorstellen. Der Leib wird ihr also zum Fundament alles Lebens und aller Manifestationen des Lebens. Das Vorhandensein von Leiblichkeit in der Welt erscheint ihr also wie eine absolut notwendige Voraussetzung für ihre eigene Existenz. Daraus erwächst ihr eine grundtiefe Angst, es könne einst eine solche Leiblichkeit nicht mehr vorhanden sein. Sie meint, mit dem Fehlen einer solchen Leiblichkeit sei auch ihr eigenes Leben beendet. Bestätigt wird diese Vorstellung durch die Beobachtung des Todes an anderen Lebewesen. Weil sie dabei den Tod nur von außen beobachten kann, fehlt ihr jegliche Kenntnis von dem seelischen Erlebnis des Todes. Sobald sie aber, mit dem Eintreten ihres eigenen, vermeintlichen, Todes eine solche Erkenntnis erlangen könnte, ist sie bereits nicht mehr dazu in der Lage, diese Erkenntnis an andere Mitmenschen weiter zu vermitteln. Der Tod steht also wie ein Geheimnis in der Zukunft eines jedes Menschen. Angesichts seiner Todesangst tröstet sich der Mensch aber mit der Vorstellung, dass das Leben sich mittels der Leiber fortpflanze. Irgend etwas scheint ewig weiter zu leben, auch wenn nicht jeder seine eigene Persönlichkeit ewig erhalten kann. Der Garant für ein solches Weiterleben mittels der sich fortpflanzenden Leiber scheint nun jenes zu sein, was man sich als Materie vorstellt. Irgend etwas muss der Welt ihre ewige Wirklichkeit garantieren, und dieses Etwas stellt die Seele sich als Materie vor. Die Vorstellung vom Vorhandensein von Materie wird für die Seele also wichtiger als ihr eigenes Leben, da sie sich ihr eigenes Leben unabdingbar mit dem Vorhandensein von Materie verknüpft vorstellt. Aus dem big bang soll nun diese ewige Materie hervor gegangen sein. Aus einem Tod soll das entstanden sein, was die Basis für ihr eigenes Leben darstellt. Die Seele ist hierbei der Wahrheit in der wahrscheinlich absurdesten Weise nahe gekommen: sie hat die größte Mythologie aller Zeiten erfunden! Durch die vollkommene Umkehrung aller Tatsachen gerät sie in den Besitz eines nahezu perfekten Irrtums. Allerdings ist dieser Irrtum nur dann perfekt, wenn man im weiteren auf alles logische Denken verzichtet. Der Weg vom Urknall zum eigenen Seelenleben ist sehr lang, und er kann nur erfolgreich gegangen werden, wenn die Seele unglaublich bescheiden mit ihren eigenen Fähigkeiten umgeht. Die Seele muss auf alles verzichten, was sie selbst ausmacht, andernfalls kann sie niemals auf diesem mythologischen Weg des Materialismus erfolgreich sein. Zuallererst muss die Seele sich überall Verstandesgrenzen setzen, andernfalls ist der Übergang vom der toten Materie zu den Manifestationen des Lebens nicht zu meistern. Das ist der Grund, warum die Menschen so schwer angeschlagen aus dem heutigen Schulsystem herauskommen: sie haben jahrzehntelang auf wahrhaft logisches Denken verzichten müssen. Es ist von ihnen verlangt worden, das Undenkbare zu denken, und der Beweis ihres Erfolges zeigt sich dann, wenn sie beginnen, darauf stolz zu sein. Erst wenn die Seele in höchstmöglichem Grade ihre eigene Lebendigkeit verloren hat, dann kann sie zufrieden mit der Mythologie des Materialismus koexistieren. Jedoch treten dann neue Unzufriedenheiten auf: die Seele beginnt an ihrem eigenen Leben zu zweifeln, weil sich dieses Seelenleben immer schwächer manifestiert. Letztendlich kommt die Seele soweit, dass sie kaum mehr an ihr eigenes Vorhandensein glauben kann. Sie erklärt sich dieses sehr unangenehme Gefühl damit, dass sie sich selbst als Illusion vorstellt, welche durch den Leib erzeugt wird. An diesem Entwicklungspunkt wird ihre Genügsamkeit maximal geprüft: sie soll damit zufrieden sein, dass ihr gesamtes Erleben nicht mehr sei, als eine komplizierte Funktion des Leibes, welche allein dem Überleben dieses Leibes zu dienen habe. Je mehr die Seele diese Vorstellung annehmen kann, um so mehr wird sie zum lebensfremden Zuschauer in einer Welt lebendiger Leiber. Sie beginnt ihre Aufgabe allein darin zu sehen, das Leben jener Leiber zu garantieren, von deren Vorhandensein ihr Zustand eines Zuschauers auf ewig abzuhängen scheint. Das Beschauen des Lebens wird ihr zum Leben selbst, weshalb sie ganz neue Formen von Interessen entwickeln kann: während sich in ihr das Leben manifestiert, beobachtet sie diese Manifestationen von außen, als ob es nicht ihr eigenes Leben wäre. Die Seele wird somit zu einem Psychologen, der sich selbst beobachtet, statt er selbst zu sein. Erst in diesem extremen Zustand der Selbstentfremdung werden die Vorstellung vom big bang und alle ähnlichen materialistischen Vorstellungen, die eigentlich zutiefst beunruhigend sind, zu beliebten Beruhigungsmitteln, weil sie alle als Garant dafür dienen, dass es in der Welt etwas gibt, was meinen jetzigen Zustand aufrecht erhalten kann: Es mag mich selbst nicht geben, aber es gibt eine Welt, die mir meine Illusion, zu leben, erhält. Die Konservierung einer materiell vorgestellten Welt wird der Seele, die dabei ist, sich selbst ganz zu verlieren, zur obersten Prämisse. Wie bereits anfangs erwähnt, entsteht diese gesamte Problematik erst gar nicht, solange die Seele nicht über sich selbst nachdenkt. Der Mensch kann durchaus zufrieden als beseelter Leib durchs Leben gehen, ohne sich von sich selbst zu entfremden. Die Voraussetzung dafür ist, dass seine gesamte Aufmerksamkeit auf das sich äußerlich abspielende Leben gerichtet ist. Zu diesem äußeren Leben gehört allerdings auch das Leben seines eigenen Leibes: auch der eigene Leib ist in Wahrheit eine äußerliche Wirklichkeit. Das Eigentum eines persönlichen Leibes ist nur ein besonderer Aspekt im äußeren Leben: dadurch unterscheidet sich dieser Leib von allen anderen menschlichen Leibern, aber auch durch nichts anderes. Wird die Aufmerksamkeit des Menschen vollständig von den Geschehnissen, die sich im Zusammenhang mit seinem Leib ergeben, absorbiert, dann gibt es auch keinen Grund für Selbstzweifel. Dann ist der Mensch sein Leib, und das Schicksal seines Leibes ist sein eigenes Schicksal. Dieser natürliche Zustand bleibt auch beim dekadentesten Zweifler stets wirksam, nur verdirbt sich dieser seine schlichte Freude daran mit falschen Gedanken und Gefühlen. Jeder Mensch kann also immer auf dieses natürlich gegebene Verhältnis zwischen Seele und Leib zurückgreifen, solange er noch irgendein Verhältnis zu den normalen Manifestationen der Lebendigkeit herstellen kann. Nur schwerwiegende Manipulationen am Leib können diesen ursprünglichen Zusammenhang so weit stören, dass die Seele ihr gesundes Verhältnis zum Menschenleben zu verlieren riskiert. Durch solche Manipulationen, welche entweder gewaltsam von außen, oder auch durch eine extrem ungünstige Seelenentwicklung verursacht werden können, entsteht eine Reihe von Irrwegen, welche noch viel schlimmer sind, als das oberflächliche Neben-dem-Leben-stehen, wie es der passiv aufgenommene, nicht ganz durchdachte Materialismus verursacht. So sehen wir in der Welt also zunächst zwei Hauptgruppen: erstens sind da die ganz normal dahin Lebenden, welche zwar schon Gedanklichkeit entwickeln, aber es nie bis zu einer ernsthaften Selbstreflektion bringen. Obwohl sie recht viel über die Welt wissen mögen, wissen sie kaum etwas von sich selbst. Ihre eigene Anwesenheit in der Welt ist ihnen noch nie zum genügend starken Bewusstseinserlebnis geworden: sie erleben sich noch eher wie eins mit der Welt als verschieden von ihr; zweitens sind da jene, die zwar ebenfalls ihre eigene Anwesenheit in der Welt noch nicht bemerkt haben, jedoch begonnen haben, sich darüber zu wundern und darum nach ihrem Selbst zu suchen. Das große Dilemma ergibt sich hierbei aus dem Umstand, dass dieses Selbst sich nicht beobachten lässt wie ein äußerer Gegenstand, eben weil es kein äußerer Gegenstand ist, sondern der Beobachter. Egal, wie viele Spiegel man im Außen aufrichten mag: das Selbst kann man auf diese Weise nicht finden. Solange nun dieses Selbst nicht erkennen kann, dass es selbst jenes Leben ist, welche es in den Manifestationen der Welt, einschließlich des eigenen Leibes, beobachtet, kann es nicht jenen Zustand erreichen, den man das Ich nennt. Obwohl jede Seele sich selbst automatisch als Ich bezeichnet, ist der Zustand einer voll ausgebildeten Ichheit erst ein zukünftiges Ziel. Man könnte sagen: die Seele hat ein Ich, aber sie ist noch nicht dieses Ich. Das Ich der Seele manifestiert sich sowohl als ihr eigenes Leben, als auch, in der Welt, als die Wesenhaftigkeit alles Lebendigen. Alle Lebenserscheinungen schlechthin sind auf ein Ich zurückzuführen, auch wenn dieses Ich nicht im einzelnen Lebewesen gegenwärtig ist. Dasselbe gilt auch für den Leib des Menschen, dessen Lebendigkeit zwar auf ein Ich hindeutet, welches jedoch nur in ganz geringem Maße jenes Ich ist, von dem der Mensch selbst ein Bewusstsein hat. Was der Mensch normalerweise als sein Ich bezeichnet, ist eine Vorstellung, die er sich von sich selbst gebildet hat. Diese Vorstellung ist sehr stark an den Leib und seine Geschichte gebunden, und hat recht wenig mit jenem Ich zu tun, das diesem Leib seine Lebendigkeit schenkt. Trotzdem gibt es einen qualitativen Zusammenhang zwischen der Ich-Vorstellung und dem eigentlichen, dem höheren Ich, weil die Seele sich in ihrem Ursprung nicht vom Ich unterscheidet. Sowohl die Seele als auch das Ich sind identisch mit dem Leben. Was ist also das Leben? Das Leben ist das Wesen der Ganzheit. Weil die Seele zu ihrem Selbstbewusstsein dadurch erwacht, dass sie an einen einzelnen Leib gebunden wird, kann sie sich auch die Ganzheit zunächst nicht anders vorstellen als etwas doch Begrenztes. Es ist darum der Seele zunächst ganz unmöglich, sich nicht zu fragen, was denn “jenseits” der Ganzheit sei. Diese Frage zeigt aber nur, dass sie sich keine Ganzheit vorstellen kann. Sie muss also zunächst darauf verzichten, den Begriff der Ganzheit mit einem Inhalt ausfüllen zu können. Sie kann sich diesen Inhalt nur stufenweise erarbeiten. Der Inhalt des Ganzen ergibt sich ihr schrittweise, indem sie das Leben überall dort erkennt, wo es erscheint. Mittels des denkenden Betrachtens aller Manifestationen des Lebens füllt sich der Begriff des Ganzen mit sinnvollem Inhalt. Erkennend vereint die Seele sich mit dem Wesen der Ganzheit, in dem sie selbst ihren Ursprung hat. Bei diesem Vorgang wird das Ich des Ganzen zu ihrem eigenen Ich. Die Seele macht sich so zum Ursprung ihres eigenen Lebens. Weil dieser Vorgang aber bewusst geschieht, ist er bei jedem Mensch anders. Das bewusste Erleben der Ich-Werdung individualisiert die Seele. Obwohl jede individualisierte Seele eins mit dem Ich des Ganzen ist, ist sie doch verschieden von den anderen Seelen. Während die Seelen in der ursprünglichen Einheit aller Seelen von keiner Trennung wussten, und allein das Ich der Ganzheit von einer solchen Differenzierung wissen konnte, entsteht bei der Individualisierung eine bewusste Abtrennung zwischen den Seelen. Die Ich-Entwicklung der Seelen macht darum eine neue Kraft nötig, welche diese voneinander getrennten Seelen auch bewusst als jene Einheit zusammenhält, die sie als Ganzheit bereits sind. Das sich individualisierende Ich kann nur dadurch zum ewigen Leben erwachen, indem es sich bewusst mit seinem Mitmenschen beschäftigt. Dieses bewusste Interesse am Anderen heißt Liebe. Ohne die Liebe ist keine Ich-Werdung möglich. Ohne die Liebe würde eine Seele, die sich mit dem Wesen des Ganzen vereint, entweder ihr Selbstbewusstsein verlieren, oder das vermeintliche Ganze könnte niemals zum wirklichen Ganzen werden, sondern wäre dazu verdammt, immer der Ausdruck einer begrenzten Persönlichkeit zu bleiben. Und müsste somit letztendlich das Leben verlieren. Die Liebe ist die einzige Kraft, welche die Seele zu jenem Ich machen kann, von dem sie jetzt erst ein allererstes Bewusstsein hat. Die Liebe, also das Interesse und die Anteilnahme am Leben unserer Mitmenschen und der Welt im allgemeinen, kann sich durchaus auf jegliche Manifestation des Lebens richten, aber sie kann stets nur das Wahrhaftige im Seelischen lieben, und niemals alle jene falschen Vorstellungen, welche sich eine Seele ebenso heranbilden kann. Das Wahrhaftige ist aber nichts anderes, als das Leben der Ganzheit. Wo immer die Ganzheit des Lebens sich manifestiert, dort kann die Seele das Wahrhaftige lieben, und es ist eben dieser Prozess einer Vereinigung mit dem Ganzen mittels dessen die Seele selbst zu einer ichhaften Wirklichkeit im Ganzen wird. Es ist gesagt worden, dass die Liebe eine neue Kraft sei, welche die Seele zu ihrer Ich-Werdung benötigt. Neu ist diese Kraft aber nur für die sich individualisierende Seele. Für die Ganzheit des Lebens ist diese Kraft nicht neu, sondern identisch mit ihrem Wesen. Was wir Einzelseelen als Welt erleben dürfen, wäre ohne die universelle Liebe ganz unmöglich. Selbst wenn uns keine Autorität ausdrücklich gesagt hätte, dass Gott die Liebe ist, müssten wir doch allein schon durch unsere eigene Beobachtung davon ausgehen, dass jene Wesenheit, welche der Begriff der Ganzheit ist, mit der Kraft der Liebe, die wir selbst in unserem Leben auf die verschiedensten Weisen erfahren können, identisch sein müsse. Wenn wir aber die Kraft der Liebe genauer beobachten, dann wird uns auffallen, dass wir als jene Person, die wir gewöhnlich Ich nennen, nur in ganz geringem Maße der Ursprung dieser Kraft sind, und dass ebenso das jeweilige Objekt unserer Liebe nicht genau jenes ist, als welches sich zum Beispiel ein anderer Mensch uns präsentieren will. Wer gepaart mit einer strengen Selbsterkenntnis die Liebeskraft beobachtet, der kann bemerken, dass die Liebe in einem geheimnisvollen Ort innerhalb unseres Seelenlebens entsteht, um einem ebenso geheimnisvollen Ort im Seelenleben unseres Gegenüber entgegen zu strömen, sei es nun ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, oder sogar ein nicht physisch erscheinendes Wesen. Obwohl die Liebe in ihrer Wirkung dazu führt, konkrete Einzelwesen zu verbinden, geht sie als Kraft weder von dem einen Einzelwesen aus noch strömt sie dem anderen Einzelwesen zu, sondern sie durchströmt beide, und es kann dabei durchaus der deutliche Eindruck entstehen, dass hier ein und dasselbe Wesen sich selbst liebt. Könnte es also nicht sein, dass die Liebe, als Wesen der Ganzheit, dort aufblitzt, wo immer ein Ich im Werden ist, und sich überall dorthin entlädt, wo ebenso andere Iche im Werden sind? In anderen Worten: Ist es nicht vielleicht der Eine Gott, der sich selbst liebt? Denn: Welcher Mensch kann schon ernsthaft behaupten, selbst der Ursprung seiner Liebe zu sein? So sind wir in unserem Gedankengang vom toten Gott des big bang beim lebenden Gott der Liebe angekommen. Wollen wir also jetzt tatsächlich noch an der Vorstellung festhalten, dass der lebende Gott der Liebe unsere Welt aus dem Leichnam eines “vorigen” Gottes zusammengesetzt habe? Spielt Gott Lego, wie ein kleines Kind? Der unterbewusste Wunsch, die Idee von der Materie nicht aufgeben zu müssen, zwingt uns aber zu solchen Gedanken. Selbst wenn wir uns dazu durchgerungen haben, zuzugeben, dass der Übergang von der leblosen Materie zu lebendigen Organismen ganz unmöglich durch jene Kräfte geschehen sein kann, die wir im Leblosen finden können; selbst wenn wir zugeben, dass die Schöpfung nicht möglich sein kann ohne einen bewussten und lebenden Schöpfer, und wir aufgeben haben, diesen Schöpfer hinter dem big bang zu verstecken; selbst dann bleibt noch der Zweifel offen, was eigentlich der ursprüngliche Baustein dieser Schöpfung sei: ist es die Materie oder etwas anderes? Bestehen wir auf dem Gedanken der Materie, dann wollen wir damit letztendlich immer beweisen, dass Gott Lego spielt, und wir erhalten uns dadurch das “kosmische Lego” als den Garant für unsere eigene Existenz, die wir uns nicht anders vorstellen können, als an einen natürlichen Leib gebunden. Wir wollen also nicht von der Vorstellung loslassen, dass es in der Welt etwas geben müsse, das objektiv als Wirklichkeit gegeben ist, weil wir sogar Gott selbst, als höchstem Subjekt, nicht unser jetziges Leben anvertrauen möchten. Die Idee, dass ein Wesen diese Welt, samt uns selbst, aus dem Nichts erschaffen habe, erschreckt uns zutiefst. Was aber ist das Nichts? Allein schon diese Frage zeigt, genauso wie im Falle des Begriffes der Ganzheit, dass wir nicht dazu in der Lage sind, den Begriff des Nichts mit einem Inhalt zu füllen. Es ist genauso unmöglich zu fragen, was ein Nichts ist, wie es unmöglich ist, zu fragen, was jenseits des Ganzen ist. Wir müssen uns darum daran gewöhnen, dass wir auf gewisse Fragen, die sich allein aus unserem jetzigen Seinszustand ergeben, verzichten müssen. Bestehen wir hingegen nicht mehr auf dem Gedanken der Materie, weil wir uns selbst, mit allen möglichen Mitteln, davon überzeugt habe, dass so etwas wie eine Materie nirgendwo aufzufinden ist, dann haben wir uns dadurch den Weg frei gemacht, jenes Wesen, das wir, als Geschöpfe, den Schöpfer nennen müssen, in seinem Schaffen vorurteilslos beobachten zu können. Wir dürfen bei uns selbst entdecken: bevor etwas erscheinen kann, muss es gedacht werden. Alles, was der Mensch erschaffen will, muss zuerst als Gedanke in ihm sein. Und wenn wir uns hinzu noch auf unseren intimen Zusammenhang mit dem Leben der Ganzheit besinnen, dann kann uns recht schnell klar werden: was ich bei mir selbst im Kleinen beobachten kann, ist auch das Prinzip der Schöpfung im Großen. Und auch hier gilt: selbst wenn uns keine Autorität gesagt hätte, dass Gott der Logos ist, könnten wir doch aus eigener Kraft erkennen, dass der Urbaustein der Schöpfung nicht die Materie ist, sondern dass wir auf der genau gegenüberliegenden Seite suchen müssen: im Denken! Und je mehr wir das Wesen des Denkens erkennen, verstehen wir, dass Gott nicht Lego spielt, sondern denkt: liebend denkt. Erst durch solche Gedanken wird die christliche Idee von Tod und Auferstehung ins rechte Licht gerückt. Nicht aus einer fiktiven Materie kann irgend etwas auferstehen, und somit von einem sterblichen Leben zu einem ewigen Leben finden. Nicht etwa aus den Bruchstücken des big bang können wir ein ewiges Ganzes zusammensetzen, sondern nur, indem wir uns bewusst mit dem Ganzen vereinen, das wir bereits sind, können wir uns, als ewige Schöpfer unserer eigenen Ichwesenheit, individualisieren. Unser “Tod” wäre hierbei der freiwillige Verlust unseres jetzigen Bewusstseinszustandes, der uns an eine vorgegebene Leiblichkeit bindet und uns dabei gleichzeitig eine fiktive Freiheit vorgaukelt; und die “Auferstehung” wäre die tatsächlich freie Neu-Schöpfung unserer eigenen Wesenheit, zwar bedingt durch das Wesen des Ganzen, aber in absoluter Freiheit in Bezug auf die Ausgestaltung unserer eigenen neuen Ganzheit. Das Geheimnis einer solchen Neu-Schöpfung aus dem Ganzen heraus ist das Gesetz der Metamorphose, dessen einzige zwingende Voraussetzung unsere grenzenlose Liebe für das Wesen der Ganzheit selbst ist, welche uns als der Sohn Gottes entgegentritt. Psychologisch betrachtet, ist diese scheinbar unsere Freiheit einengende Notwendigkeit, den einzigen Sohn des Schöpfers zu lieben, nichts anderes als die objektive Notwendigkeit, dass wir uns selbst lieben müssen, wenn wir ewig sein wollen. Wir können nicht vom Zustand des Geschöpfes zum Zustand des Schöpfers aufsteigen, solange wir nicht die Schöpfung als Ganzheit grenzenlos lieben wollen. Diese, eigentlich sehr überraschende Fähigkeit, als Geschöpfe die Schöpfung auch nicht lieben können, ist die Voraussetzung für unsere Freiheit. Indem wir die Möglichkeiten dieser Freiheit auszuschöpfen lernen, entdecken wir auch die Möglichkeit zu Irren. Doch auch wenn die Möglichkeit zu Irren das größte aller Wunder der Schöpfung ist, sollten wir zur Weisheit finden, auf den Irrtum freiwillig zu verzichten, statt, wie gebannt von seinem Schein, in selbstzerstörerischer Tatenlosigkeit zu verharren. Denn auch die Möglichkeit, uns selbst zu zerstören, ist Teil der uns gegebenen Freiheit. Statt uns also endlos darüber zu freuen, dass wir fähig sind, einen Irrtum wie den big bang zu denken, sollten wir uns frei dazu entschließen, das Denken selbst zu erforschen, um einst Jenen finden zu können, der uns den Irrtum erlaubt hat. Anthroposophie und Gemeinschaftsleben
Man sollte sich erwarten dürfen, dass ein allumfassendes Wissen jene Menschen, die sich mit diesem Wissen beschäftigen, auch umfassend vereinen würde. Doch ist dies bei der Anthroposophie nicht der Fall, solange ihre Schüler sich dieser alles vereinenden Umfassendheit nicht genügend bewusst werden. Es ist sogar bei angehenden Schülern eine gesteigerte Streitbarkeit zu beobachten. Anthroposophie ist also keinesfalls eine Kraft in der Welt, welche automatisch die Menschen zusammenbringt. Mittels des Studiums verbindet sich der Schüler der Anthroposophie mit einer Weisheit, die allumfassend ist. Von der Art, wie diese Verbindung sich gestaltet, hängt sein weiteres Schicksal als soziales Wesen ab. Zunächst tritt die Anthroposophie gleich jedem anderen Wissen in das Leben eines Menschen, als eine Lehre mit einem Wahrheitsanspruch. Dass es sich um ein allumfassendes Wissen handelt, wird es nur von jenen sofort erkannt, welche zuvor an der Beschränktheit aller anderen Wissensformen genügend gelitten haben. Wer der Anthroposophie vorher begegnet, der kann glauben, es hier nur mit einer, neben vielen, Weisheiten zu tun zu haben. Er wird dann versuchen, die Anthroposophie in sein bisheriges Weltbild einzuordnen. Aber nur solange sich ihm das Wesen der Anthroposophie ganz verschließt, kann ihm das auch gelingen. Häufiger ist, dass er das wahre Wesen der Anthroposophie zumindest instinktiv bemerkt, und sie, als Reaktion darauf, vehement von sich weist. Als Normalzustand wäre also eine innerliche Abwehr gegen die Anthroposophie anzusehen. Sich anfänglich gegen die Anthroposophie zu wehren, ist ein Zeichen von Gesundheit, denn es wird hier der natürliche Seinszustand des Menschen in Frage gestellt. Ein seelisch-geistig aufmerksamer Mensch bemerkt beim ersten Kontakt zur Anthroposophie sofort: die Anthroposophie lässt mich nicht so sein, wie ich jetzt bin. Darum kann nur ein seelisch-geistig sehr unaufmerksamer Mensch frohgemut die Anthroposophie in sein Leben integrieren, ohne zu bemerken, welchen radikalen Verwandlungskräften, die sein gesamtes Leben in Frage stellen, er sich hierbei potenziell aussetzt. Solange er jedoch in die Anthroposophie nicht tief genug gedanklich eintaucht, bleibt er vor jeglicher Verwandlung bewahrt. Es stellt sich dann nur noch die Frage, welchen Sinn die Anthroposophie jenseits ihres gründlichen gedanklichen Erfasstwerdens haben könne. Diese Frage muss auf die Meisten angewendet werden, die sich in der Welt als anthroposophisch-gebildete Menschen manifestieren. Man gibt sich da gerne mit Teil-Informationen zufrieden, welche man als Kuriositäten in sein Leben integriert. Und man freut sich, wenn diese Teil-Informationen in praktischen Bereichen zu positiven Resultaten führen, wobei die Positivität weiterhin vom Gesichtspunkt des gewöhnlichen Lebens aus beurteilt wird. Man meint also, die Anthroposophie könne im täglichen Leben nützlich sein. Die Erfolge sind auch beobachtbar, man unterliegt hier keinem Irrtum. Der Irrtum ist ganz woanders zu suchen. Nicht weil man die Anthroposophie in sein eigenes Leben integriert hat, verbessert sich dieses Leben, sondern weil das eigene Leben allmählich in die Anthroposophie integriert wird! Die Beschäftigung mit der Anthroposophie erlaubt es den lebendigen Ideen, die man in sich aufnimmt, das Leben jedes Einzelmenschen sinnvoll in die allumfassende Weisheit einzuordnen. Die allumfassende Weisheit beginnt somit, sich im Einzelmenschen zu individualisieren. Geschieht dieser Vorgang aber nicht vollbewusst, sondern mehr als unterbewusster Einfluss, dann beginnt der Mensch viel zu früh, sich selbst mit der allumfassenden Weisheit persönlich zu identifizieren. Statt diese Identifikation als höchstes Ideal anzusehen, genießt man das Gefühl, sich selbst bereits jetzt als allumfassendes Wesen ahnen zu können. Ein solches Gefühl ist allerdings möglich, sobald man sich der Anthroposophie gefühlsmäßig geöffnet hat. In einer ersten Phase wird demnach die Anthroposophie eher wie etwas Fremdes aufgenommen und genutzt, in einer zweiten Phase beginnt man sie zu verinnerlichen, sich mit ihr zu vereinen. Obwohl die zweite Phase ein Fortschritt ist, liegen hier neue Gefahren verborgen, solange der Mensch sich noch nicht aus dem gewöhnlichen Seelenleben befreit hat. Im gewöhnlichen Seelenleben, das an den natürlichen Leib gebunden ist, entsteht nämlich der Eindruck, das gewöhnliche Ich werde allumfassend. Der Mensch kommt zu einem Lebensgefühl, das ihm vorgaukelt, er selbst als Person sei allumfassend. Die anderen Menschen kommen ihm vor wie Bestandteile seiner eigenen Welt. Man stelle sich nun vor, 2 solche Menschen treffen aufeinander. Jeder erhebt den, meist unausgesprochenen, Anspruch, der Andere sei Bestandteil der eigenen Wesenheit. Man darf sich darum nicht wundern, dass, gerade bei ernsthaften Anthroposophen, in dieser Phase die Streitbarkeit stark ansteigt. Erst wenn die Illusion des physischen Sinneslebens überwunden worden ist, kann dieser leidig-lustige Zustand tatsächlich überwunden werden. Allerdings kann solches erst in einer späteren Entwicklungsphase und auch nur individuell erreicht werden. In jener 3. Phase bildet sich das soziale Leben dann auf einer ganz anderen Ebene, als Liebe von Ich zu Ich. Im gewöhnlichen sozialen Leben kann man darum nur 2 Menschensorten vorfinden, die sich mit Anthroposophie beschäftigen:
Gerade aus dem gewöhnlichen Gesellschaftsleben geht vor allem jene Sorte hervor, die sofort mit Phase 2 beginnt. Hingegen kann es die 1. Sorte fast nur unter jenen geben, die innerhalb von anthroposophischen Institutionen aufgewachsen sind. Eine Ausnahme bilden besonders oberflächliche Menschen, die schlechthin alles in ihr Leben integrieren können, das sich irgendwie alternativ präsentiert. Beim sozialen Schaffen kann man eigentlich nur mit der 1. Sorte rechnen. Die 2. Sorte ist fundamental asozial. Die 1. Sorte von Menschen ist eine ganz ungewöhnliche Truppe von Kulturmenschen. Sie tun das Unmögliche: sie integrieren eine allumfassende Weisheit in ihre eigene, begrenzte Vorstellungswelt. In anderen kulturellen Umfeldern ist das möglich, weil man es nur mit Weisheitssplittern und kompletten Irrtümern zu tun hat. Der einzelne Mensch ist durchaus das Umfassendere in Bezug auf die gewöhnliche Kultur, und er tut gut daran, sich auch so zu verhalten. Jedoch ist Anthroposophie Initiationswissenschaft, welche das Ganze lehrt. Hier ändert sich das Verhältnis! Der Einzelmensch ist zunächst nur ein Teil des Ganzen, er ist Geschöpf, und er muss sich dementsprechend verhalten. Wer größer als das Ganze sein zu will, der muss scheitern - jedoch nur, wenn er es bewusst tut. Unbewusst getan, macht er sich selbst zu einem Kuriosum: man betrachtet es und wundert sich, wie es das geben kann. Die Existenz solcher Kuriositäten muss Rudolf Steiner aber ein großes Anliegen gewesen sein, weil er sonst niemals die Geheimwissenschaft veröffentlichen hätte dürfen. In den alten Einweihungsstätten wurde eine solche Existenzform noch mit extrem strengen Mitteln vermieden. Wenn ein Einzuweihender, der bereits gewisse Einblicke haben durfte, die Prüfung nicht bestand, wurde er nie mehr aus dem Tempel hinausgelassen! Die Waldorfschulen und andere anthroposophische Institutionen erzeugen jetzt hingegen massenweise solche Menschen. Man könnte sie “Tempelflüchtlinge” nennen. In den Seelen der Tempelflüchtlingen tut sich ein weiter Graben auf. Dieser Graben ruft nach einer nie da gewesenen Ausdehnung des Seelischen. Die Seele soll lernen, alle Bereiche des Lebens zu umfassen. Der umfassende Geist will umfassende Einzelseelen schaffen. Die Welt der Tempelflüchtigen Jeder Mensch, der unvorbereitet auf die Anthroposophie stößt, ist ein Tempelflüchtiger. Wie auch in alten Zeiten, kann die Vorbereitung nur darin bestehen, sich aus dem Lebenskampf selbst die nötigen Fragen erarbeitet zu haben, welche in der Anthroposophie ihre Antworten finden. Gerät man hingegen an die Antworten, bevor man an den Fragen genügend gelitten hat, ist man unvorbereitet. Man kann die Antworten dann entweder ganz ablehnen, oder man kann versuchen, sie dekorativ für das eigene Leben zu benutzen. Welchen Weg man geht, liegt sowohl am Charakter als auch am Schicksalsweg. Ein empfindsamer Charakter, der sich nach dem Schönen und Guten sehnt, kann die ungefragt erhaltenen Antworten eher annehmen als ein aggressiver Egoist. Ebenso ist ausschlaggebend, wer der Überbringer der Antworten ist. Hat man die anthroposophische Weisheiten in jungen Jahren in einem liebevollen Umfeld aufnehmen dürfen, dann kann es gut sein, dass man man sie nur deshalb weiterhin mit sich trägt, weil sie einen an eine angenehme Jugendzeit erinnern. In jedem Fall bleibt man aber ein Mensch, der vor den höheren Wahrheiten flüchtet, weil man ihre Notwendigkeiten nicht wirklich einsehen kann. Man ist ein Tempelflüchtiger, der sein Heil in der naturgegebenen Welt sucht. Um sich in der naturgegebenen Welt zurecht zu finden ist jedoch das Tempelwissen nur dann nützlich, wenn man es verinnerlicht hat. Als reiner Dekor ist es ein Zeichen von Schwäche, wie alles zivilisatorische und kulturelle Beiwerk des menschlichen Lebens. Da nun aber tatsächlich sehr wenig vom Mensch übrig bleiben würde, wenn man alles kulturelle Beiwerk aus dem täglichen Leben verbannen wollte, ist es ganz sinnlos über den Mensch als reines Naturwesen nachzusinnen. Der Mensch ist erst Mensch durch eben dieses Kulturleben, in welchem er seine naturgegebene Kreativität zunächst allein ausleben kann. Wollte man solches verhindern, dann wäre das, als würde man sich einen direkten Evolutionssprung vom Tier zum Gott erwarten. Die Menschheitsphase besteht eben gerade darin, dass der Mensch seine göttliche Kreativität nicht in der Natur selbst auslebt, sondern dass er sich ein eigenes Reich neben die Natur hinzu schafft. Die Anthroposophie soll ihm dabei helfen, dass seine eigene Kreativität nicht in einem Widerspruch zur jener Kreativität stehe, welche ihn selbst und die gesamte Natur geschaffen hat. Wäre er jedoch kein Tempelflüchtiger, dann könnte seine eigene Kreativität nichts anderes sein als eine direkte Fortsetzung der natürlichen Kreativität. Gerade weil er ein Tempelflüchtiger ist, kann er etwas Neues schaffen - das allerdings nie etwas anderes als ein Irrtum sein kann. Der Irrtum besteht in der Missachtung jener geistigen Welt, die ihn selbst erschaffen hat. Der irrende Mensch schafft darum Welten, die ihn selbst als Existenzform ausschließen. Würde man es ihm hierbei erlauben, sich aller Naturkräfte zu bedienen, dann würde er sich selbst ent-schaffen! Seine Kreativität muss sich darum auf einen Bereich beschränken, der keine Wirklichkeit hat. Innerhalb der großen Illusion schafft der Mensch sich seine eigene Welt. Die Anthroposophie, in ihrem wahren Wesen verstanden, bereitet diesem Wirken innerhalb des Irrtums ein Ende. Sie soll den Mensch zu einem bewussten Wirken in Harmonie mit jener geistigen Welt bewegen, welche auch ihn selbst erschaffen hat. Das bedeutet aber nichts weniger als dass die Anthroposophie von jenem Leben, das sich innerhalb der Illusion abspielt, verlangt zu sterben. Die Anthroposophie ist darum, wenn wirklich verstanden, kein kulturelles Element, mit dem man das gewöhnliche Leben weiterführen kann. Es kann im allgemeinen Kulturleben darum nur eine unverstandene Anthroposophie auftauchen. Man kann sich darüber wundern, wie so etwas möglich sein könne, da sich die Anthroposophie doch gerade ganz besonders an die Verstandeskräfte wendet. Wie kann man eine Wissenschaft, die den deutlichen Anspruch erhebt, verstanden zu werden, frohgemut benutzen, ohne sie zu verstehen? Im Grunde ist nichts in der Welt so ungeeignet als Kulturträger wie die Anthroposophie. Die Lage ist ganz ähnlich wie beim institutionellen Christentum: sobald man tatsächlich Christ geworden ist, muss man aus der Kirche austreten. Nur verlangt das institutionelle Christentum kein intellektuelles Verständnis, sondern ein rein gefühlsmäßiges Erfassen. Es lässt sich also viel einfacher in unser intellektuell geprägtes restliches Leben einfügen. Zumindest, solange dieses intellektuelle Leben die Religion nicht ausschließt. Bei der Anthroposophie kann aber die Trennung von Denken und Fühlen nicht helfen. Anthroposophie soll gedacht werden. Trotzdem gelingt es den Menschen, die Anthroposophie zu denken ohne zu denken. Von Gedanken zu sprechen, die man nicht verstanden hat, ist für die meisten Menschen kein Problem, sie tun das auch in allen anderen Bereichen. Diese Fähigkeit hat ihren Ursprung in der Gewöhnung an den Irrtumszustand. Man ist gewöhnt zu irren, es mindert nicht das Lebensgefühl. Die Anthroposophie kann sich darum, obwohl sie die Wahrheit ist, in den Irrtum einreihen. Aber sie ist sehr unbequem und darum als Kulturmittel nur sehr eingeschränkt einsetzbar. Es besteht in jedem Moment das Risiko, dass jemand sie versteht. Sobald sie jedoch annähernd verstanden wird, gerät der Mensch in Phase 2, wo er zunächst sozial unbrauchbar wird. In der praktischen Anwendung für das Gemeinschaftsleben kann die Anthroposophie darum nur aus dem Hintergrund heraus wirken. Wenn ein Mensch arbeitet, kann der Tätige der Geist, die Seele oder der Körper sein. Gehen wir also einmal davon aus, wir seien selbst dieser arbeitende Mensch. Wer arbeitet, wenn ich arbeite? Bei einer sachlichen Betrachtung bemerke ich, dass ich bei jeglicher Form von Arbeit den physischen Leib benutze. Doch scheint es mir, dass ich ihn manchmal mehr und manchmal weniger benutze, weshalb man auch zwischen körperlicher und geistiger Arbeit unterscheidet. Doch wer bin ich, der sich so empfindet? Wer empfindet sich eingespannt zwischen Geist und Körper? Wer bin ich, wenn ich einerseits auf den Körper schaue, der Arbeiten verrichtet, und andererseits erlebe, wie eine geistige Welt mein Fühlen und Denken inspiriert? Ich, der Erlebende, bin die Empfindungsseele. Als Empfindungsseele bin ich zwar an einen einzelnen Körper gebunden, den ich als meinen Körper erleben muss, doch betrifft dieses Erleben nur einen ganz kleinen Teil der körperlichen Lebens. Ich erlebe meinen Körper eigentlich nur dann etwas bewusster, wenn seine Harmonie mit der Welt auf irgendeine Weise gestört wird: wenn Druck auf ihn ausgeübt wird, wenn er ermüdet, wenn er krank ist, wenn er überreizt wird, wenn er Giften ausgesetzt wird. Im harmonischen Normalzustand bemerke ich meinen Körper eigentlich kaum. Was in ihm vorgeht, ist mir nahezu vollständig unbekannt. Ich bemerke sein Vorhandensein dann nur durch seine Willensäußerungen. Mein Körper verlangt von mir, ihn bei gewissen Taten zu begleiten. Und weil ich an ihn gebunden bin, habe ich keine andere Wahl, als meine Aufmerksamkeit auf diese Taten zu richten, wenn mein Körper es von mir verlangt.
Damit mein Körper nicht sein harmonisches Verhältnis zur Welt verliere, sind gewisse Vorgänge in der Welt nötig, welche mit Hilfe des Körpers selbst ausgeführt werden müssen. Diese Vorgänge sollen Ernährung, Fortpflanzung und Schlafen ermöglichen. Die Bedürfnisse des Körpers sind damit bereits abgedeckt. Gäbe es nur Seele und Körper, dann wären alle Arbeiten darauf beschränkt, diese drei Notwendigkeiten abzusichern. Da ich als Seele jedoch auch direkte Impulse von der geistigen Welt empfange, kann mir dies nicht genügen. Um mich vollwertig als Seele empfinden zu können, kann ich meine Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf meinen Körper richten. Ich brauche Freiräume, um den Geist erleben zu können. Ich füge darum den körperlichen Grundbedürfnissen mein eigenes Bedürfnis nach tagwacher Ruhezeit hinzu. Ich möchte während des Tages Freiraum haben, um meine Aufmerksamkeit auf mich selbst als seelisch-geistiges Wesen richten zu können. Um mir solchen Freiraum zu erobern, benutze ich die lenkende Macht, die mir über meinen Körper verliehen worden ist, dazu, um Arbeiten zu verrichten, welche die Welt so ordnen, dass sich solcher Freiraum, auch Freizeit genannt, ergeben könne. Ich füge den naturgegebenen Arbeiten also neue Arbeiten hinzu, welche ohne meine seelisch-geistige Gegenwart nicht nötig wären. Man kann diese Art von Betätigungen als kulturelles und zivilisatorisches Arbeiten zusammenfassen. Ich empfinde die Notwendigkeit solcher kultureller und zivilisatorischer Arbeiten ebenso als eine Notwendigkeit wie jene Arbeiten, die mir von der Natur auferlegt werden. Der Drang kommt nur von der entgegengesetzten Seite an mich als Seele heran. In beiden Fällen ist es der Geist, der mich lenkt. Am Körper erlebe ich den manifesten Geist, der eine natürliche Form angenommen hat. Aber ich erlebe den Geist auch direkt, ohne Umweg über den Körper, weil ich als Seele selbst aus ihm geboren bin. Als Mensch kann ich niemals jene Harmonie erreichen, welche ich in der restlichen Natur beobachte, weil ich selbst als Seele etwas in die Natur hineinbringe, was von der Natur mehr verlangt, als sie geben kann. Ich bin selbst der Zerstörer des natürlichen Gleichgewichtes. Ermüdung, Krankheit und Tod sind die Folgen meines naturwidrigen Willens, der mir vom noch nicht manifesten Geist gegeben wird. Ich werde als Seele, durch meine Anbindung an einen einzelnen natürlichen Körper, einen menschlichen Gattungsleib, zunächst darauf aufmerksam gemacht, dass der Geist mich als Einzelwesen will. Ich erwache an dem natürliche Körper zum Individuum. Doch kann mir dieser Körper nicht genügen, um zu sein, was ich sein will. Ich kann mein Ich nicht im Körper finden. Der Wille zu einem anderen Ich-Sein strömt mir vom Geist entgegen, jedoch in einer Weise, die mich nicht zwingt. Während der Körper mich als Seele zwingt, dieser bestimmte Einzelmensch zu sein, kommt mir vom Geist die Botschaft entgegen, ich dürfe selbst frei mein geistiges Wesen erschaffen. Doch wer könnte jemals der Schöpfer sein von etwas, das es noch nicht gibt? Wie kann ich mich selbst als Ich schöpfen , wenn es mich noch gar nicht als geistiges Wesen gibt? Wo ist die Basis für diese Schöpfung? Meine Basis ist mein Leben als Erdenmensch. Auf dieser Basis kann ich Neues schöpfen. Doch stünde ich vollkommen orientierungslos in dieser Welt, wenn ich kein Vorbild hätte! Wie soll denn ein solches voll ausgebildetes, neues menschliche Ich aussehen? Wie würde sich ein solches Ich in dieser natürlichen Welt manifestieren? Während ich mir diese Fragen stelle, entwickelt sich ein neuer Teil meiner Seele: die Gemüts- und Verstandesseele. Ich beginne als Seele an einer geistigen Arbeit teilzuhaben, die man Denken nennt. Ich denke noch nicht selbst, ab ich nehme am Denken teil. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Inhalt des Denkens, ohne mir noch bewusst zu sein, was ich tue, wenn ich mitdenke. Das Denken selbst bleibt mir ein Geheimnis, aber der Inhalt des Denkens wird mir zum Teil meines Wesens. Eben durch diese Erweiterung meines Seelenlebens wird es möglich, dass der Geist sich auch in meinem Denken offenbare. Und zu meiner frohen Überraschung darf ich hierbei irgendwann erfahren, dass bereits ein Mensch das von mir angestrebte Ziel erreicht habe! In dem ich die Anthroposophie studiere bemerke ich: hier spricht ein voll ausgereiftes, freies menschliches Ich zu mir. Das bisher unbekannte Ziel hat also eine Form angenommen. Ich kann mich an diesem Ziel orientieren und trotzdem frei sein. Ich orientiere mich, in dem ich die Anthroposophie in mein Verstandesleben aufnehme. Und ich bin frei, indem es mir erlaubt wird, meine Seele noch einmal zu erweitern. Das voll ausgebildete Ich sagt zu mir: du darfst Bewusstseinsseele werden, wenn du lernst, selbst zu denken! Jene Arbeit also, die bisher von der geistigen Welt an mich herankam, die soll ich jetzt selbst tun, und dadurch erst zu einem geistigen Selbst werden. Wenn ich arbeite, kann mich also in jedem Moment fragen: Wer ist der Arbeiter? Ist es der natürliche Körper? Ist es die Empfindungsseele? Ist es die Verstandesseele? Ist es der Geist? Oder bin ich es gar selbst, als Bewusstseinsseele? Im heutigen Normalzustand bin der Arbeiter nie ich selbst. Der Körper ist immer der Arbeitende, es verändert sich nur das Verhältnis zwischen Seele und Körper. Man kann die verschiedenen Arbeitsformen daran unterscheiden, wie stark die Seele ihre Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit des Körpers richten muss, während dieser arbeitet. Bei Tätigkeiten, die sich regelmäßig wiederholen, bei sogenannter Routine, kann die Seele unaufmerksamer sein als bei Tätigkeiten, bei denen sich jedesmal neue Bedingungen ergeben. Je mehr die Seele mitfühlen und mitdenken muss, also desto schwieriger gilt eine Arbeit. Ob eine Arbeit als anstrengend gilt, hat mit ihrer Schwierigkeit nichts direkt zu tun. Es kann eine Arbeit sehr einfach sein und trotzdem als sehr anstrengend gelten, und es kann eine Arbeit sehr kompliziert sein, und trotzdem würde niemand darauf kommen, sich über die nötige Anstrengung zu beklagen. Bei der Beurteilung verschiedener Arbeiten kommt es ganz stark darauf an, ob ein Mensch vor allem Empfindungsseele ist oder ob er bereits die Verstandesseele entwickelt hat. Bei Menschen, die vorwiegend Empfindungsseele sind, die also nicht gerne Nachdenken, gilt eine Arbeit in 2 Fällen als anstrengend: erstens wenn der Körper sich so sehr ermüdet, dass die Empfindungsseele gezwungen wird, ihre Aufmerksamkeit stärker auf der Körper zu richten als im Ruhezustand; zweitens, wenn die Tätigkeit es verlangt, die Verstandesseele zu aktivieren. Gegen letzteres wehrt man sich mit allen Mitteln. Bei Menschen, die bereits eine hoch entwickelte Verstandesseele sind, bei sogenannten Intellektuellen, ändert sich das Urteil fundamental. Betätigungen, bei denen die Verstandesseele aktiviert wird, gelten als angenehm, selbst wenn der Körper (in diesem Falle das Gehirn) dabei ermüdet wird. Die Ermüdung nimmt man gerne hin, weil man sich am Nachdenken erfreut. Andererseits sind körperliche Arbeiten, welche die Aufmerksamkeit der Seele in einer Weise verlangen, dass die Seele über nichts anderes nachdenken kann, während gearbeitet wird, sehr unbeliebt und man empfindet sie als nahezu beleidigend anstrengend. Man überlässt solche Arbeiten darum möglichst immer jenen, die sowieso nicht gerne intellektuell Nachdenken. Hingegen sind routinehafte Arbeiten, bei denen man nicht über die Arbeit selbst nachdenken muss, bei Intellektuellen unter Umständen sehr beliebt, weil sie während der Arbeit mit ihren Gedanken ganz woanders schweben können und sich vom Erdenleben losgelöst fühlen. Es sei hier besonders zu bedenken, dass heutzutage gewisse Formen mechanischen Nachdenkens auch ohne sonderliche Beanspruchung der Verstandesseele praktiziert werden kann. Der heutige Mensch kann wie ein Automat denken. Viele Arbeiten, bei der scheinbar Denken involviert ist, geschehen also ganz automatisch, wie rein körperliche Funktionen, ohne dass sich die Verstandesseele anstrengen müsse. Diese Form des Arbeitens ist in der heutigen Zeit die meistverbreitete. Sie ist nicht nur in der Bürokratie zu Hause, sondern zieht sich weit hinein in Bildung und Kultur. Es darf einen nicht wundern, wenn diese Form von Gehirn-Arbeit genauso von Maschinen ersetzt werden kann wie bereits in großem Maße die Muskel-Arbeit. Was nicht durch Maschinen ersetzt werden kann, ist die seelische Aufmerksamkeit, wodurch das entsteht, was man Bewusstsein nennt. Unbewusste Intelligenzarbeit kann von Maschinen ersetzt werden, weil es hierbei nur auf das Resultat der Arbeit ankommt. Das Resultat selbst ist aber vollkommen uninteressant, wenn kein bewusstes Lebewesen gegenwärtig ist. Allein die Gegenwärtigkeit bewusster Lebewesen gibt dieser Welt Sinn. Und der Sinn rührt letztendlich von nichts anderem, als dass ein solches bewusstes Lebewesen soweit gelangen könne, selbst zu denken, und somit beginne, geistig wirklich zu werden. Jeglicher anderer Gebrauch der Schöpfung ist zwar möglich, aber sinnlos. Es sollte einen nicht wundern, dass, nachdem die gesamte vorangegangene griechisch-römische Kulturperiode darauf ausgerichtet gewesen war, die Gemüts- und Verstandesseele zu entwickeln, es jetzt von zentraler Wichtigkeit ist, einen gesunden Menschenverstand zu haben, um erstens in Harmonie mit der bestehenden Welt leben zu können und um zweitens den neuen seelischen Aufgaben gewachsen zu sein, die sich dem Menschen im Zeitalter der Bewusstseinsseelenentwicklung stellen.
Ob nun ein Menschenverstand gesund oder ungesund ist, hängt zwar auch von vielen Faktoren ab, die außerhalb des Menschenverstandes anzuordnen sind, doch das zentrale Problem ist, dass sich der Menschenverstand selbst in die Quere kommt. Wie konnte das geschehen? Dass der Menschenverstand sich selbst feindlich gegenüberstehe, ist erst möglich geworden durch das Christentum. Es gibt nämlich aufgrund des Mysterium von Golgatha zwei verschiedene Formen des menschlichen Verstandes, wobei die erste, ältere Form das Christus-Ereignis noch nicht in ihr Denken integrieren kann, während die zweite, neuere Form des Verstandesdenkens bereits daran arbeitet, die Gegenwart Christi auf Erden in ihrem Denken zu berücksichtigen. In das Gemüt, also in die grundlegende Seelenverfassung, die mit dem Leben als verstandesbegabtes Wesen verbunden ist, ist das Christus-Ereignis zwar bereits weitreichend als eine Tatsache eingedrungen, die man gefühlsmäßig erfasst, doch im Verstandesleben selbst ist noch viel Arbeit zu leisten. Solange diese Arbeit nicht genügend getan ist, gibt es zwei Formen des Menschenverstandes, die sich gegenüberstehen. Durch diese Zwigespaltenheit des Verstandes kann erst jener ungesunde Menschenverstand entstehen, der für die heutige Welt typisch ist. Auch in älteren Zeiten hat es Bedingungen gegeben, die die Harmonie des Menschen mit seiner Welt stören konnten, doch niemals war diese Störung zum Rang einer Normalität aufgestiegen. Man muss heutzutage bei einem Menschen mit ungesundem Menschenverstand nämlich durchaus von einem normalen Menschen sprechen, während ein gesunder Menschenverstand hingegen meistens davon zeugt, dass ein Mensch noch nicht ganz auf der Höhe seiner Zeit angekommen ist, und nur in seltenen Einzelfällen, dass er sich bereits der nächsten Entwicklungsstufe annähere. Der gesunde Menschenverstand ist demnach das Band zwischen der alten und der neuen Harmonie zur Welt, und dazwischen steht als aktuelle Normalität der ungesunde Menschenverstand, den man ebensogut Wahnsinn oder Irrsinn nennen könnte. Niemand darf darum überrascht sein, den Wahnsinn und Irrsinn überall als Normalität anzutreffen. Nur weil neuere und ältere Lebensformen gleichzeitig existieren, gibt es hinzu auch den gesunden Menschenverstand. Mit vollem Recht bezeichnet sich darum der ungesunde Menschenverstand als Normalität, und empfindet den gesunden Menschenverstand, egal von welcher Seite er kommt, aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft, als Bedrohung seines gewohnten Lebensgefühles. So wie die Menschenseele seit dem 15. Jahrhundert mittels des natürlichen Leibes in die Welt hineingestellt wird, hat sie zunächst keine andere Wahl, als das vorgefundene Verhältnis zwischen ihrem Leib und der Umwelt als die einzig mögliche Welt vorzustellen. Da der heutige Mensch sich allein seiner leiblichen Sinne bedienen kann, ist sein naturgegebenes Verhältnis zur Welt das einzige ihm bekannte und ein gesunder Verstand kann zunächst ausschließlich über dieses Verhältnis nachdenken. Alle Begriffe, die sich aus diesem rein natürlichen Verhältnis ergeben, sind dem gesunden Menschenverstand zuzuordnen. Gesund ist diese Art von Verstand deshalb, weil sie die gegebene Harmonie zwischen Leib und Umwelt nicht störend beeinflusst. Sie fügt dem gegebenen Verhältnis nichts hinzu, was in diesem Verhältnis nicht schon bereits enthalten wäre. Aus der bewussten Empfindung dieses gesunden Zustandes entsteht im Gemüt der Menschenseele eine Tendenz zum Konservatismus. Die Seele bemerkt, dass das Gegebene ihr leibliches Wohlbefinden stärkt und erhält. Ein wichtiger Teilbereich der konservativen Seelenhaltung ist die Religion. Ohne das Vorhandensein von Religion könnte die Seele in einem rein natürlichen Verhältnis zur Welt nicht zur Ruhe kommen, weil der natürliche Leib nicht unsterblich ist. Das natürliche Leben hat einen Beginn und einen Ende, aber die Seele kann sich nicht als ein Wesen mit einem Ende vorstellen, ohne dadurch in Beunruhigung zu geraten. Durch die Religion erscheint in ihrem gewöhnlichen Sinnesleben ein Wahrnehmungsbereich, der diese Sorgen der Seele beruhigen kann. Über das Christentum wird von einer solchen konservativen Seele nicht anders nachgedacht als über alle anderen sinnlich gegebenen Wahrnehmungen. Damit dies geschehen konnte, hat der Christus einmal sinnlich wahrnehmbar als Jesus erscheinen müssen. Andere Religionen stützen sich ebenso auf das Wahrnehmbare. Der besondere Anspruch an den Verstand entsteht beim Christentum dadurch, dass Jesus Christus als Einheit von natürlichem Mensch und übersinnlichem Gott verstanden werden will. Jesus Christus weisst nicht nur auf eine höhere Wirklichkeit hin, die jenseits von Geburt und Tod anzusiedeln ist, sondern er ist jene Wirklichkeit als Person. Der Menschenverstand wird also durch das Christentum dazu herausgefordert, über dieses intime Verhältnis zwischen Mensch und Gott nachzudenken. In anderen Religionen kann der Gläubige seinen Gott problemlos außerhalb seines Selbst lokalisieren. Der christliche Gläubige kann dies nicht ohne weiteres tun, weil die Evangelien darauf hindeuten, dass die Einheit von Mensch und Gott, die sich in Jesus Christus geschichtlich einmal wahrnehmbar gezeigt hat, durchaus als Vorbild für alle Menschen gemeint war. Der Christ darf also durchaus auf ein intimes Verhältnis zu seinem Gott hoffen, das sich nicht nur auf seine Seele beschränkt, sondern auch seinen Leib erfassen kann. Dadurch entsteht für den christlichen Verstand die Frage: wo ist mein Gott, wenn ich mich mit ihm verbinden darf? Wie soll ich ihn anreden, wenn er mir so nahe kommt, dass ich mich mit ihm vereinen kann? Jesus Christus hat darauf selbst die Antwort gegeben: Ich bin der Ich bin. Es muss der christliche Verstand also soweit kommen, einzusehen, dass er als wahrer Christ seinen Gott als sein eigenes Ich anreden muss. Die große Gefahr, die daraus entstehen kann, ist offensichtlich: der Mensch kann dem Irrtum verfallen, das gewöhnliche Ich-Bewusstsein, das durch das Leben im Leib entsteht, sei bereits das göttliche Ich. Er würde dann im gewöhnlichen Bewusstsein versucht sein zu sagen: Ich bin Gott. Durch den vorigen Zustand bedingt, tut er das allerdings eher selten. Dieser Gedanke bleibt meist ihm Unterbewusstsein, zeigt dort aber trotzdem seine starke Wirkung. Aus dem gewöhnlichen Ich-Bewusstsein heraus zu denken: Ich bin Gott - ist nicht anders ist als zu denken: Es gibt keinen Gott, es gibt nichts Höheres als diese Wirklichkeit, die sich mir mittels meiner physischen Sinne darbietet. Durch eine solche Vorstellungsart gerät der Mensch jedoch in den Machtbereich der Angst, denn er kennt ja weder den Ursprung dieser einzig ihm bekannten Wirklichkeit, noch ist er fähig, sich als Wesen innerhalb dieser Wirklichkeit auf Dauer zu erhalten. Durch den Einfluss dieser alles durchdringenden Angst verliert der menschliche Verstand in steigendem Maße seine Gesundheit. Das Denken des Menschen wird immer weniger geeignet, sein Wohlbefinden aufrecht zu erhalten, es wird eben ungesund. Der menschliche Verstand fügt durch dieses ungesunde Denken der gegebenen Wirklichkeit Begriffe hinzu, denen keine Wahrnehmungen entsprechen. Der so ausgerichtete Mensch fühlt sich gezwungen, in die Wirklichkeit Begriffe hineinzudenken, die dort gar nicht vorhanden sind, wie z.B die Materie selbst, die dem Materialist ja als sicherster Garant seiner Vorstellungswelt dienen sollte. Dabei glaubt er jedoch, genau das Gegenteil zu tun. Er glaubt, naturwissenschaftlich zu denken und sich nur streng an die Tatsachen zu halten, die er mittels seiner Sinne erfahren kann. Er ist dabei ganz besonders stolz darauf, die alten religiösen Vorstellungen ganz von sich zu weisen. Durch diese Vorgehensweise gewöhnt sich sein Verstand daran, in immer mehr Bereichen wirklichkeitsfremd zu denken, was dazu führt, dass die ehemalige Harmonie zwischen dem Mensch und seiner Umwelt immer mehr gestört wird. Obwohl sein Gemüt während dieser Entwicklung immer kränker und kränker wird, will er von den alten Vorstellungen des gesunden Menschenverstandes nichts mehr hören. Sie gelten ihm entweder als Kinderkram oder als von machthungrigen Menschen in die Welt gesetzte Lügen. Wie aber ist der menschliche Verstand in diese außergewöhnliche Lage gekommen, sich selbst aus der Wirklichkeit heraus zu treiben? Das konnte nur dadurch geschehen, weil der gewöhnliche gesunde menschliche Verstand überraschend mit der Tatsache des Christus-Ereignisses konfrontiert wurde, ohne darauf vorbereitet zu sein. Gerade der aus der vorigen Kulturepoche mitgebrachte gesunde Menschenverstand konnte nämlich am allerwenigsten mit dem Christus-Ereignis umgehen. Die konservative Seelenhaltung ist darauf aufgebaut, dem Gegebenen nichts Eigenes hinzu zu fügen, weil man sein eigenes Wesen gar nicht in sich selbst lokalisiert, sondern sich selbst nur als Teil eines Ganzen verstehen kann. Diese Haltung war allerdings wahr und darum heilbringend bis zum Mysterium von Golgatha. Nun aber verband sich jenes innerste Wesen des Menschen mit dem gewöhnlichen Bewusstsein, in dem es als natürlicher Mensch auf der Erde wandelte und den natürlichen Leib mittels Tod und Auferstehung vergeistigte. Was der gesunde Menschenverstand bis dahin im vor- und nachgeburtlichen Leben lokalisieren konnte, wurde potenzieller Teil seiner gegenwärtigen Wirklichkeit. Wer das Christus-Ereignis wirklich verstehen wollte, der musste vor sich selbst zugeben, dass der Schöpfer der Welt ab jetzt nur noch als Ich-Erlebnis auf der Erde gefunden werden konnte. Dieser Gedanke widersprach jedoch diametral allem, was jemals zuvor als gut und wahr gegolten hatte, und wurde darum besonders von allen frommen und gottesfürchtigen menschlichen Seelen ins Unterbewusstsein gedrängt. Um die Entwicklung des Christentum zu verstehen, muss man darum seine Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die letzte Konsequenz des Christus-Ereignisses eigentlich vom gesunden Menschenverstand mit nur ganz wenigen gedanklichen Schritten relativ leicht einzusehen ist, und gerade deshalb ins tiefste Unterbewusstsein hinuntergestoßen wurde. Der gesunde Menschenverstand, der vom Evangelium berichtet bekommt, versteht zunächst sofort, worum es geht: Der Schöpfer hat sich mit seiner Schöpfung verbunden, ich aber bin diese Schöpfung, darum ist mein Ich jetzt identisch mit dem Ich des Schöpfers. Sein gesundes Verhältnis zur Wirklichkeit lässt ihn aber gleich im nächsten Moment ebenso erkennen: Es ist unmöglich, dass ich der Schöpfer dieser Welt und meiner selbst bin, weil ich weder mich selbst noch die Welt verstehe. Würde sich der gesunde Menschenverstand trauen, an diesem Punkt weiterzudenken, dann müsste er zu dem Schluss kommen: Was mich als dieser Einzelmensch vom Schöpfer der Welt und somit von meinem wahren Selbst unterscheidet, ist der Mangel an Wissen. Ich kann nur deshalb nicht in wahrem Sinne “Ich bin” sagen, weil ich mir der heilige Geist fehlt, also das vollständige Wissen vom Menschen und seiner Welt. Diese beiden gesunden Gedankengänge, die Erkenntnis der eigenen Göttlichkeit und die Erkenntnis des eigenen Mangels, könnten theoretisch direkt aufeinander folgen, liegen aber in der Praxis weit auseinander. Was sich dazwischen drängt, sind zwei prinzipielle Irrtümer. Der erste Irrtum ist jener des konfessionellen Christen, welcher das Christus-Ereignis einfach als einmalige historische Erscheinung in sein gewöhnliches Vorstellungsleben einbaut, ohne dabei einen fundamentalen Gemütswandel durchzumachen. Der zweite Irrtum ist jener des Atheisten, in dessen Gemüt der Christus-Impuls paradoxerweise nicht selten stärker wirkt als im konfessionellen Christen, der aber aufgrund seines eigenen Wissensmangel den Schluss zieht, es könne keinen schöpferischen Geist geben und der damit auch den Christus verleugnet, also jenes Geistwesen, ohne dessen rettenden Eingriff in die Welt er selbst niemals ein Atheist hätte werden können. Der konfessionelle Christ bleibt im Gemüt vorchristlich, der Atheist verliert sich in unendlichen intellektuellen Widersprüchen. Dadurch dass der konfessionelle Christ den Christus auf vorchristliche Weise anbetet, bleibt ihm der altbewährte gesunde Menschenverstand aber in hohem Grade erhalten. Das Christentum kann er hingegen nur mit dem Gefühl erfassen. Dort stellt sich ihm sein naiver Verstand, der sich nur auf die gewöhnliche Sinnenwelt stützen will, als Hindernis entgegen. Der Atheist hingegen erlebt den Christus-Impuls als unterbewussten Gemütswandel und wendet sich gerade deshalb vom konfessionellen Christentum und von allem geistigen Wissen ab. Sein kritischer Verstand wird ungesund und wirklichkeitsfremd. Gerade dadurch schafft sich der Atheist aber die Basis dafür, um später mit Hilfe seiner abstrakten Verstandesbegriffe auf ganz neue Art in die geistige Welt eindringen zu können. Letzteres wäre hingegen nicht möglich nur mit Hilfe jener Verstandeskräfte, die dem Menschen durch ein gesundes Verhältnis zur Natur gegeben werden. Gerade das Wirklichkeitsfremde seiner Gedanken schafft ihm den nötigen Freiraum für ein ganz neues Verhältnis zur geistigen Welt. Zu einer Wiedereroberung des gesunden Menschenverstandes auf höherer Ebene kann der Atheist letztendlich aber nur dadurch gelangen, dass der heilige Geist ihm hilfreich entgegen kommt, indem er innerhalb der gewöhnlichen Sinnenwelt als Anthroposophie erschienen ist. Ohne die Hilfe der Anthroposophie endet der ungesund gewordene Menschenverstand in einer Sackgasse. Ein kontinuierlicher Übergang vom alten gesunden Menschenverstand zur Anthroposophie wäre theoretisch nur dann möglich, wenn die Welt ganz frei von Lügen wäre. Doch die Lügen gibt es ja aus einem guten Grund: gerade dadurch, dass der Mensch sich temporär vom gesunden Menschenverstand entfernt, kann er sein Ich-Bewusstsein stark genug entwickeln, um überhaupt auf den Kernpunkt des Christentums eingehen zu können. Ohne die Stärkung des Ich-Bewusstseins durch den Materialismus würde der Mensch nur sehr schwer von seinem Gruppenseelenleben loskommen können. Damit soll aber nicht gesagt sein, das letzteres ganz unmöglich wäre. Indem man also die Macht der Lüge in der Welt abdämpft, verringert man den Abstand zwischen den zwei Formen des gesunden Menschenverstandes, also zwischen dem alten gesunden Verhältnis zur Natur und dem neuen gesunden Verhältnis zum heiligen Geist. Dadurch werden die Irrwege, die dazwischen liegen müssen, weniger gefährlich. Da es sowieso unmöglich ist, die Lüge ganz aus der Welt zu verdrängen, kann man also durchaus in dieser Richtung arbeiten, ohne sich gleich Sorgen machen zu müssen, den Irrtum als nötigen Erzieher zu verlieren. Irrtümer geschehen trotzdem noch genügend, auch wenn die Macht der Lüge eingeschränkt wird. Die Lüge ist schließlich nicht das einzige Hindernis, dass sich dem Verstand in den Weg legt. Nachdem wir uns also bewusst gemacht haben, dass der ungesunde Menschenverstand durchaus normal ist, können wir jetzt daran gehen, uns zu überlegen, wie man mit dieser Normalität am Besten umgehen könne. Der ungesunde Zustand ist zwar normal, aber ist da, um geheilt zu werden. Solange das normale Bewusstsein des Menschen das gegenständliche, wache Tagesbewusstsein ist, kann es letztendlich bei der Heilung des ungesunden Menschenverstandes nur darum gehen, den Mensch in die Gegenwart zurückzuführen. Dieser Zustand ähnelt dem Zustand, in dem er vor dem Krankwerden gestanden war, als er noch den naiven gesunden Menschenverstand besaß. Damit man aber von einem Fortschritt sprechen darf, muss in dieser Gegenwart jetzt auch er selbst als Ich vorhanden sein. Das Ich ist aber nichts anderes als eben der Schöpfer alles Gegenwärtigen. In sich selbst als Einzelmensch muss er also den Schöpfer alles Gegenwärtigen finden. Dabei wird ihm allerdings bewusst, wie wenig er als Einzelmensch bisher diesem Kriterium entspricht. Er kann verstehen lernen, dass er als Einzelmensch vielmehr die Organisation liefert, in der ein Ich leben kann, ohne dass er bereits das Ich selbst wäre. Der neu zu erobernde, gesunde Menschenverstand kann also nur darin bestehen, sich selbst als Ich-Organisation innerhalb der gegebenen Natur erleben zu können. Man steht selbst als Ich-Organisation inmitten des Gegebenen und ist sich als solche Ich-Organisation bewusst, dass der Ursprung alles Gegebenen als Ich in der Ich-Organisation, die man selbst ist, lebt. Der gesunde Menschenverstand kann diese Situation begreifen, ohne sich in Widersprüchlichkeiten zu verwickeln. Seine Aufgabe als gesunder Mensch besteht darin, die Ich-Organisation so zu erhalten, damit sich die Vereinigung des Christus mit ihm als Einzelmensch vollziehen könne. Während dieses Vorganges steht die Seele zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite ist die Seele selbst Produkt des Gegebenen, auf der anderen Seite entdeckt sie als ihr ureigenstes Wesen den Schöpfer alles Gegebenen. Gesund kann ein Menschenverstand unter diesen Umständen nur bleiben, wenn er beginnt, die Schöpfung zu verstehen. Nur durch den heiligen Geist kann er zu dem werden, was sein ureigenstes Wesen ist. Die Seele als Ganze wandelt sich auf diesem Weg also vom Geschöpf zum Schöpfer. Der allererste Zustand der Kreatürlichkeit kann darum so, wie man ihn als naiver Mensch mit seinem natürlich gegebenen gesunden Menschenverstand erlebt, nicht ewig erhalten bleiben. Es durchaus nötig, dass dieser Zustand sterbe. Der Mensch muss sich freiwillig dazu durchringen können, diesen allerersten Zustand aufzugeben. Die Seele kann dieses Sterben als Kreatur vollbringen, indem sie sich mit dem Christus vereint, der selbst der Ursprung aller Kreatürlichkeit ist. Diese Vereinigung kann aber nur wahr werden durch den heiligen Geist. Mit Hilfe des heiligen Geistes wird der Mensch zum Ich, und somit zum freien Schöpfer seiner eigenen Kreatürlichkeit. Dabei darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass derselbe Vorgang vielfach voranschreitet, weil der Christus sich mit allen Menschen vereinen will. Im natürlichen Umfelde kann man also erwarten, auf die verschiedensten Grade dieser Entwicklung zu stoßen. Das beinhaltet, dass auch der höchste Grad bereits von einem Mensch erreicht worden sein könnte. Wenn wir nun in Betracht zieht, dass im Grunde alles, was wir durch der Anthroposophie wissen, von Rudolf Steiner stammt, dann ist es der Gedanke, bei Rudolf Steiner diese schöpferische Gegenwart bereits verwirklichte Tatsache anzunehmen, gar nicht so fern. Wäre nun ein Mensch wie Rudolf Steiner bereits zum Status eines Schöpfers seiner eigenen Kreatürlichkeit aufgestiegen ist, müsste sich der gesunde Menschenverstand unweigerlich fragen: Wie weit reicht diese Kreatürlichkeit? Ist das Wesen eines Ich-Menschen weiterhin innerhalb der Haut des natürlichen Leibes eingeschlossen, oder ist es vielmehr identisch mit der gesamten Welt? Aus der Anthroposophie können wir entnehmen, das beides gültig ist. Der vollendete Ich-Mensch ist aus freier Entscheidung ein Mensch wie alle anderen, doch sein Wesen ist identisch mit der gesamten Schöpfung. Es stünde also da tatsächlich ein Mensch vor uns, der als Einzelmensch der Schöpfer desselben Ganzen ist, dem wir auch selbst angehören. Wir könnten also hier den Christus wieder aus uns selbst hinaus verlagern, und ihn in seiner individualisierten Form als die gegebene Welt selbst anbeten. Was uns vorher als Universum umgab, stünde jetzt als ein Einzelmensch vor uns. Das alte naive Verhältnis zwischen Kreatur und Schöpfer wäre dadurch auf höherer Ebene wieder hergestellt. Allerdings hätten wir uns dadurch wieder einmal in den vorchristlichen Zustand versetzt! Es ginge also auch bei einer Begegnung mit dem individualisierten Christus darum, ihn als unser Ich zu entdecken, und nicht darum, ihn in seiner natürlichen Form anzubeten. Dasselbe muss in Zukunft für jedes Individuum gelten, das zum Ich-Menschen wird. Es geht nicht darum, jene Individuen in einem durch die Sinne gegebenen Ort aufzusuchen, sondern sie in uns selbst als unser Ich zu finden, wodurch wir erst selbst zu einem solchen Individuum werden können. Es wird dann der Mensch als Ich-Mensch keiner gegebenen natürlichen Welt mehr gegenüber stehen, sondern er ist dann selbst Individuum in seiner eigenen Welt, welche aber keine andere Welt ist, als eben die Welt des Heiligen Geistes. Die Frage nach dem ursprünglichen Denker dieses heiligen Geistes liegt jenseits des gesunden Menschenverstandes. Erst die Entwicklung der Bewusstseinsseele wird diese Frage wohl beantworten können. Nicht um eine absolute Wissensgrenze handelt es sich also, sondern um eine absolute Verstandesgrenze. Jenseits der Kreatürlichkeit hat der Verstand, als Erschaffer von Wahrheiten, die Schöpfer mit Geschöpf verbinden, keine Aufgabe mehr. Der gesunde Menschenverstand, als Wahrheitsquelle, ist auf jeder Ebene der Garant für das korrekte Verhältnis zwischen Kreatur und Schöpfer. Angesichts des Vatergottes ist der gesunde Menschenverstand in der einfachsten Lage, weil er hierbei nur auf natürliche Weise dasein muss, um wahr zu sein. Angesichts des Sohnesgottes gerät er in schwerste Schwierigkeiten, weil er so wie er bisher war, sterben muss. Angesichts des heiligen Geistes kann er wieder auferstehen. Bei voller Erhaltung der Gesundheit können alle drei Phasen gleichzeitig gelebt werden. Die Krankheit des Verstandes entsteht nur dann, wenn er sich weigert, angesichts des Sohnesgottes zu sterben. Diese Verweigerung kann sich in jedem Moment geltend machen, bis das Werk vollbracht ist. Zum Sterbensprozess gehört darum auch, dass der gesunde Menschenverstand sich selbst eine oberste Grenze setzt. Er kann sich nicht in alle Ewigkeit hineinprojizieren. Er muss seinen eigenen Tod als Wirkungsgrenze akzeptieren, die er nicht überschreiten will. Was denn würde es bedeuten, wenn der gesunde Menschenverstand nicht sterben wollte? Dann würde die Kreatur versuchen, die Schöpfung von außen zu betrachten. also sozusagen dem Schöpfer gegenüber eine kritische Haltung einnehmen. Damit soll nicht gesagt sein, dass eine solche Haltung absolut ausgeschlossen sei! Es muss der gesunde Menschenverstand aber einsehen, dass eine solche Haltung zunächst nicht dazu beitragen kann, einen Kosmos der Liebe zu schaffen. Was von uns verlangt wird, ist demnach zunächst diese Welt zu verstehen und ihren Schöpfer zu lieben. Was sich daran noch anknüpfen könnte, liegt jenseits unsere gesunden Menschenverstandes. |