Ist die Vorstellung des big bang nicht eine sehr ungewöhnliche Vorstellung?
Die Geburt als Explosion…. Nirgendwo ist in der Welt eine solche Form von Geburt zu beobachten, und doch soll die Welt als Ganze geradeso so entstanden sein. Während überall die Explosion zum Tode führt, soll in diesem Fall eine Explosion der Ursprung alles Bestehenden sein. Die Vorstellung der Naturwissenschaft will hier also einen Tod zeitlich an den Anfang setzen, und aus diesem Tod soll später alles Leben entstanden sein. Wie ist es möglich, dass sich so viele Seelen mit einer solchen Erklärung zufrieden geben? Ein Grund ist zweifellos, dass die allermeisten Seelen nie darüber nachdenken. Aber auch sehr viele jener, die sich in die Ideen der Naturwissenschaft vertiefen, finden sich mit dieser Vorstellung zurecht und finden sogar Gefallen an ihr. Die Vorstellung vom big bang ist eine perfekte Umkehrung der christlichen Idee von Tod und Auferstehung. Sie erlaubt der Seele, die nicht gründlich nachdenkt, die Illusion, sich Materialismus und ewiges Leben als eine mögliche Einheit vorzustellen. Diese Vorstellung beruhigt die Seele. Warum aber ist es der Seele so wichtig, Materialismus und ewiges Leben als vereinbar denken zu können? Obwohl sie das Leben nicht versteht, ist die Seele sich doch zunächst ganz sicher, dass sie selbst dieses Leben ist: denn sie kann sich ganz eindeutig von allem Leblosen unterscheiden. Gleichzeitig glaubt sie zu bemerken, wie stark sie vom Leblosen abhängt, um leben zu können. Dieser intensive Eindruck einer Abhängigkeit vom Leblosen hat jedoch viel mehr mit dem Bewusstsein vom Leben zu tun, als mit dem Leben selbst. Die Seele wird sich ihres Lebens bewusst, weil sie in einem sterblichen Leib lebt. Die Seele identifiziert ihr eigenes Leben mit dem Leben des Leibes, weil dies ihre gegenwärtigen Beobachtungen bestätigt. Jenseits einer Leiblichkeit kann die Seele nirgendwo Leben entdecken, weder bei sich selbst, noch bei anderen Lebewesen. Der Leib erscheint wie eine Grundvoraussetzung für das Leben, obwohl er eigentlich nur die Grundvoraussetzung für das Bewusstsein vom Leben ist. Ihr Selbstbewusstsein gewinnt die Seele gerade deshalb, weil der Leib nicht nur Leben, sondern auch Tod ist. Das Selbstbewusstsein erwacht am Anderen, am Verschiedenen, und das Andere ist der Tod. Die Seele hat mit dem Tod ursprünglich nichts gemeinsam, und erkennt sich darum selbst angesichts eines sterblichen Leibes, an den sie schicksalshaft gebunden ist. Sie bemerkt an sich und an anderen Menschen, dass sie sich nicht ohne weiteres von jenem Leib loslösen kann, ohne ihr Selbstbewusstsein zu verlieren. Doch sie beobachtet an Pflanzen und Tieren, dass es auch Leben geben kann, das nicht dasselbe Selbstbewusstsein besitzt. Auch bei Pflanzen und Tieren meint sie Leben und Tod als etwas beobachten zu können, das mit dem Leib untrennbar verbunden ist. Es erscheint ihr offensichtlich, dass es kein Leben ohne einen Leib geben könne. Woher kommt dieser Irrtum? Dass die Seele sich ihres eigenen Lebens zum ersten Mal mit Hilfe eines sterblichen menschlichen Leibes bewusst wird, hat nicht etwa zur Folge, dass die Seele das Leben selbst erkenne. Und weil die Seele das Leben als solches nicht erkennen kann, identifiziert sie das Leben mit einer Leiblichkeit, welche Anzeichen von Lebendigkeit an sich trägt. Die Seele verwechselt die Lebendigkeit mit dem Leben selbst. Zweifellos sind Pflanze, Tier und Mensch lebendig im Gegensatz zum Mineral. Von lebendigen Steinen phantasieren nur sehr Wenige, obwohl solche Phantasien nicht unterschätzt werden dürfen. Pflanze, Tier und Mensch geben Anzeichen von Lebendigkeit, die man bei leblosem Stoff normalerweise nicht beobachten kann. Diese Anzeichen von Lebendigkeit erinnern die Seele an das, was sie selbst als ihr eigenes Leben erlebt. Sie glaubt darum, ihr eigenes Leben sei ebenso eine Fortentwicklung derselben Lebendigkeit, welche sie in der restlichen Natur beobachten kann. Sie glaubt, ihr Fühlen, Denken und Wollen sei nur eine höhere Form jener Lebendigkeit, die sie bei Pflanzen und Tieren beobachten kann. Da die Seele aber ihr eigenes Fühlen, Denken und Wollen genauso wenig versteht, wie ihr eigenes Leben, kann sie sich ihre eigenen Fähigkeiten nicht unabhängig von einem Leib vorstellen. Der Leib wird ihr also zum Fundament alles Lebens und aller Manifestationen des Lebens. Das Vorhandensein von Leiblichkeit in der Welt erscheint ihr also wie eine absolut notwendige Voraussetzung für ihre eigene Existenz. Daraus erwächst ihr eine grundtiefe Angst, es könne einst eine solche Leiblichkeit nicht mehr vorhanden sein. Sie meint, mit dem Fehlen einer solchen Leiblichkeit sei auch ihr eigenes Leben beendet. Bestätigt wird diese Vorstellung durch die Beobachtung des Todes an anderen Lebewesen. Weil sie dabei den Tod nur von außen beobachten kann, fehlt ihr jegliche Kenntnis von dem seelischen Erlebnis des Todes. Sobald sie aber, mit dem Eintreten ihres eigenen, vermeintlichen, Todes eine solche Erkenntnis erlangen könnte, ist sie bereits nicht mehr dazu in der Lage, diese Erkenntnis an andere Mitmenschen weiter zu vermitteln. Der Tod steht also wie ein Geheimnis in der Zukunft eines jedes Menschen. Angesichts seiner Todesangst tröstet sich der Mensch aber mit der Vorstellung, dass das Leben sich mittels der Leiber fortpflanze. Irgend etwas scheint ewig weiter zu leben, auch wenn nicht jeder seine eigene Persönlichkeit ewig erhalten kann. Der Garant für ein solches Weiterleben mittels der sich fortpflanzenden Leiber scheint nun jenes zu sein, was man sich als Materie vorstellt. Irgend etwas muss der Welt ihre ewige Wirklichkeit garantieren, und dieses Etwas stellt die Seele sich als Materie vor. Die Vorstellung vom Vorhandensein von Materie wird für die Seele also wichtiger als ihr eigenes Leben, da sie sich ihr eigenes Leben unabdingbar mit dem Vorhandensein von Materie verknüpft vorstellt. Aus dem big bang soll nun diese ewige Materie hervor gegangen sein. Aus einem Tod soll das entstanden sein, was die Basis für ihr eigenes Leben darstellt. Die Seele ist hierbei der Wahrheit in der wahrscheinlich absurdesten Weise nahe gekommen: sie hat die größte Mythologie aller Zeiten erfunden! Durch die vollkommene Umkehrung aller Tatsachen gerät sie in den Besitz eines nahezu perfekten Irrtums. Allerdings ist dieser Irrtum nur dann perfekt, wenn man im weiteren auf alles logische Denken verzichtet. Der Weg vom Urknall zum eigenen Seelenleben ist sehr lang, und er kann nur erfolgreich gegangen werden, wenn die Seele unglaublich bescheiden mit ihren eigenen Fähigkeiten umgeht. Die Seele muss auf alles verzichten, was sie selbst ausmacht, andernfalls kann sie niemals auf diesem mythologischen Weg des Materialismus erfolgreich sein. Zuallererst muss die Seele sich überall Verstandesgrenzen setzen, andernfalls ist der Übergang vom der toten Materie zu den Manifestationen des Lebens nicht zu meistern. Das ist der Grund, warum die Menschen so schwer angeschlagen aus dem heutigen Schulsystem herauskommen: sie haben jahrzehntelang auf wahrhaft logisches Denken verzichten müssen. Es ist von ihnen verlangt worden, das Undenkbare zu denken, und der Beweis ihres Erfolges zeigt sich dann, wenn sie beginnen, darauf stolz zu sein. Erst wenn die Seele in höchstmöglichem Grade ihre eigene Lebendigkeit verloren hat, dann kann sie zufrieden mit der Mythologie des Materialismus koexistieren. Jedoch treten dann neue Unzufriedenheiten auf: die Seele beginnt an ihrem eigenen Leben zu zweifeln, weil sich dieses Seelenleben immer schwächer manifestiert. Letztendlich kommt die Seele soweit, dass sie kaum mehr an ihr eigenes Vorhandensein glauben kann. Sie erklärt sich dieses sehr unangenehme Gefühl damit, dass sie sich selbst als Illusion vorstellt, welche durch den Leib erzeugt wird. An diesem Entwicklungspunkt wird ihre Genügsamkeit maximal geprüft: sie soll damit zufrieden sein, dass ihr gesamtes Erleben nicht mehr sei, als eine komplizierte Funktion des Leibes, welche allein dem Überleben dieses Leibes zu dienen habe. Je mehr die Seele diese Vorstellung annehmen kann, um so mehr wird sie zum lebensfremden Zuschauer in einer Welt lebendiger Leiber. Sie beginnt ihre Aufgabe allein darin zu sehen, das Leben jener Leiber zu garantieren, von deren Vorhandensein ihr Zustand eines Zuschauers auf ewig abzuhängen scheint. Das Beschauen des Lebens wird ihr zum Leben selbst, weshalb sie ganz neue Formen von Interessen entwickeln kann: während sich in ihr das Leben manifestiert, beobachtet sie diese Manifestationen von außen, als ob es nicht ihr eigenes Leben wäre. Die Seele wird somit zu einem Psychologen, der sich selbst beobachtet, statt er selbst zu sein. Erst in diesem extremen Zustand der Selbstentfremdung werden die Vorstellung vom big bang und alle ähnlichen materialistischen Vorstellungen, die eigentlich zutiefst beunruhigend sind, zu beliebten Beruhigungsmitteln, weil sie alle als Garant dafür dienen, dass es in der Welt etwas gibt, was meinen jetzigen Zustand aufrecht erhalten kann: Es mag mich selbst nicht geben, aber es gibt eine Welt, die mir meine Illusion, zu leben, erhält. Die Konservierung einer materiell vorgestellten Welt wird der Seele, die dabei ist, sich selbst ganz zu verlieren, zur obersten Prämisse. Wie bereits anfangs erwähnt, entsteht diese gesamte Problematik erst gar nicht, solange die Seele nicht über sich selbst nachdenkt. Der Mensch kann durchaus zufrieden als beseelter Leib durchs Leben gehen, ohne sich von sich selbst zu entfremden. Die Voraussetzung dafür ist, dass seine gesamte Aufmerksamkeit auf das sich äußerlich abspielende Leben gerichtet ist. Zu diesem äußeren Leben gehört allerdings auch das Leben seines eigenen Leibes: auch der eigene Leib ist in Wahrheit eine äußerliche Wirklichkeit. Das Eigentum eines persönlichen Leibes ist nur ein besonderer Aspekt im äußeren Leben: dadurch unterscheidet sich dieser Leib von allen anderen menschlichen Leibern, aber auch durch nichts anderes. Wird die Aufmerksamkeit des Menschen vollständig von den Geschehnissen, die sich im Zusammenhang mit seinem Leib ergeben, absorbiert, dann gibt es auch keinen Grund für Selbstzweifel. Dann ist der Mensch sein Leib, und das Schicksal seines Leibes ist sein eigenes Schicksal. Dieser natürliche Zustand bleibt auch beim dekadentesten Zweifler stets wirksam, nur verdirbt sich dieser seine schlichte Freude daran mit falschen Gedanken und Gefühlen. Jeder Mensch kann also immer auf dieses natürlich gegebene Verhältnis zwischen Seele und Leib zurückgreifen, solange er noch irgendein Verhältnis zu den normalen Manifestationen der Lebendigkeit herstellen kann. Nur schwerwiegende Manipulationen am Leib können diesen ursprünglichen Zusammenhang so weit stören, dass die Seele ihr gesundes Verhältnis zum Menschenleben zu verlieren riskiert. Durch solche Manipulationen, welche entweder gewaltsam von außen, oder auch durch eine extrem ungünstige Seelenentwicklung verursacht werden können, entsteht eine Reihe von Irrwegen, welche noch viel schlimmer sind, als das oberflächliche Neben-dem-Leben-stehen, wie es der passiv aufgenommene, nicht ganz durchdachte Materialismus verursacht. So sehen wir in der Welt also zunächst zwei Hauptgruppen: erstens sind da die ganz normal dahin Lebenden, welche zwar schon Gedanklichkeit entwickeln, aber es nie bis zu einer ernsthaften Selbstreflektion bringen. Obwohl sie recht viel über die Welt wissen mögen, wissen sie kaum etwas von sich selbst. Ihre eigene Anwesenheit in der Welt ist ihnen noch nie zum genügend starken Bewusstseinserlebnis geworden: sie erleben sich noch eher wie eins mit der Welt als verschieden von ihr; zweitens sind da jene, die zwar ebenfalls ihre eigene Anwesenheit in der Welt noch nicht bemerkt haben, jedoch begonnen haben, sich darüber zu wundern und darum nach ihrem Selbst zu suchen. Das große Dilemma ergibt sich hierbei aus dem Umstand, dass dieses Selbst sich nicht beobachten lässt wie ein äußerer Gegenstand, eben weil es kein äußerer Gegenstand ist, sondern der Beobachter. Egal, wie viele Spiegel man im Außen aufrichten mag: das Selbst kann man auf diese Weise nicht finden. Solange nun dieses Selbst nicht erkennen kann, dass es selbst jenes Leben ist, welche es in den Manifestationen der Welt, einschließlich des eigenen Leibes, beobachtet, kann es nicht jenen Zustand erreichen, den man das Ich nennt. Obwohl jede Seele sich selbst automatisch als Ich bezeichnet, ist der Zustand einer voll ausgebildeten Ichheit erst ein zukünftiges Ziel. Man könnte sagen: die Seele hat ein Ich, aber sie ist noch nicht dieses Ich. Das Ich der Seele manifestiert sich sowohl als ihr eigenes Leben, als auch, in der Welt, als die Wesenhaftigkeit alles Lebendigen. Alle Lebenserscheinungen schlechthin sind auf ein Ich zurückzuführen, auch wenn dieses Ich nicht im einzelnen Lebewesen gegenwärtig ist. Dasselbe gilt auch für den Leib des Menschen, dessen Lebendigkeit zwar auf ein Ich hindeutet, welches jedoch nur in ganz geringem Maße jenes Ich ist, von dem der Mensch selbst ein Bewusstsein hat. Was der Mensch normalerweise als sein Ich bezeichnet, ist eine Vorstellung, die er sich von sich selbst gebildet hat. Diese Vorstellung ist sehr stark an den Leib und seine Geschichte gebunden, und hat recht wenig mit jenem Ich zu tun, das diesem Leib seine Lebendigkeit schenkt. Trotzdem gibt es einen qualitativen Zusammenhang zwischen der Ich-Vorstellung und dem eigentlichen, dem höheren Ich, weil die Seele sich in ihrem Ursprung nicht vom Ich unterscheidet. Sowohl die Seele als auch das Ich sind identisch mit dem Leben. Was ist also das Leben? Das Leben ist das Wesen der Ganzheit. Weil die Seele zu ihrem Selbstbewusstsein dadurch erwacht, dass sie an einen einzelnen Leib gebunden wird, kann sie sich auch die Ganzheit zunächst nicht anders vorstellen als etwas doch Begrenztes. Es ist darum der Seele zunächst ganz unmöglich, sich nicht zu fragen, was denn “jenseits” der Ganzheit sei. Diese Frage zeigt aber nur, dass sie sich keine Ganzheit vorstellen kann. Sie muss also zunächst darauf verzichten, den Begriff der Ganzheit mit einem Inhalt ausfüllen zu können. Sie kann sich diesen Inhalt nur stufenweise erarbeiten. Der Inhalt des Ganzen ergibt sich ihr schrittweise, indem sie das Leben überall dort erkennt, wo es erscheint. Mittels des denkenden Betrachtens aller Manifestationen des Lebens füllt sich der Begriff des Ganzen mit sinnvollem Inhalt. Erkennend vereint die Seele sich mit dem Wesen der Ganzheit, in dem sie selbst ihren Ursprung hat. Bei diesem Vorgang wird das Ich des Ganzen zu ihrem eigenen Ich. Die Seele macht sich so zum Ursprung ihres eigenen Lebens. Weil dieser Vorgang aber bewusst geschieht, ist er bei jedem Mensch anders. Das bewusste Erleben der Ich-Werdung individualisiert die Seele. Obwohl jede individualisierte Seele eins mit dem Ich des Ganzen ist, ist sie doch verschieden von den anderen Seelen. Während die Seelen in der ursprünglichen Einheit aller Seelen von keiner Trennung wussten, und allein das Ich der Ganzheit von einer solchen Differenzierung wissen konnte, entsteht bei der Individualisierung eine bewusste Abtrennung zwischen den Seelen. Die Ich-Entwicklung der Seelen macht darum eine neue Kraft nötig, welche diese voneinander getrennten Seelen auch bewusst als jene Einheit zusammenhält, die sie als Ganzheit bereits sind. Das sich individualisierende Ich kann nur dadurch zum ewigen Leben erwachen, indem es sich bewusst mit seinem Mitmenschen beschäftigt. Dieses bewusste Interesse am Anderen heißt Liebe. Ohne die Liebe ist keine Ich-Werdung möglich. Ohne die Liebe würde eine Seele, die sich mit dem Wesen des Ganzen vereint, entweder ihr Selbstbewusstsein verlieren, oder das vermeintliche Ganze könnte niemals zum wirklichen Ganzen werden, sondern wäre dazu verdammt, immer der Ausdruck einer begrenzten Persönlichkeit zu bleiben. Und müsste somit letztendlich das Leben verlieren. Die Liebe ist die einzige Kraft, welche die Seele zu jenem Ich machen kann, von dem sie jetzt erst ein allererstes Bewusstsein hat. Die Liebe, also das Interesse und die Anteilnahme am Leben unserer Mitmenschen und der Welt im allgemeinen, kann sich durchaus auf jegliche Manifestation des Lebens richten, aber sie kann stets nur das Wahrhaftige im Seelischen lieben, und niemals alle jene falschen Vorstellungen, welche sich eine Seele ebenso heranbilden kann. Das Wahrhaftige ist aber nichts anderes, als das Leben der Ganzheit. Wo immer die Ganzheit des Lebens sich manifestiert, dort kann die Seele das Wahrhaftige lieben, und es ist eben dieser Prozess einer Vereinigung mit dem Ganzen mittels dessen die Seele selbst zu einer ichhaften Wirklichkeit im Ganzen wird. Es ist gesagt worden, dass die Liebe eine neue Kraft sei, welche die Seele zu ihrer Ich-Werdung benötigt. Neu ist diese Kraft aber nur für die sich individualisierende Seele. Für die Ganzheit des Lebens ist diese Kraft nicht neu, sondern identisch mit ihrem Wesen. Was wir Einzelseelen als Welt erleben dürfen, wäre ohne die universelle Liebe ganz unmöglich. Selbst wenn uns keine Autorität ausdrücklich gesagt hätte, dass Gott die Liebe ist, müssten wir doch allein schon durch unsere eigene Beobachtung davon ausgehen, dass jene Wesenheit, welche der Begriff der Ganzheit ist, mit der Kraft der Liebe, die wir selbst in unserem Leben auf die verschiedensten Weisen erfahren können, identisch sein müsse. Wenn wir aber die Kraft der Liebe genauer beobachten, dann wird uns auffallen, dass wir als jene Person, die wir gewöhnlich Ich nennen, nur in ganz geringem Maße der Ursprung dieser Kraft sind, und dass ebenso das jeweilige Objekt unserer Liebe nicht genau jenes ist, als welches sich zum Beispiel ein anderer Mensch uns präsentieren will. Wer gepaart mit einer strengen Selbsterkenntnis die Liebeskraft beobachtet, der kann bemerken, dass die Liebe in einem geheimnisvollen Ort innerhalb unseres Seelenlebens entsteht, um einem ebenso geheimnisvollen Ort im Seelenleben unseres Gegenüber entgegen zu strömen, sei es nun ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, oder sogar ein nicht physisch erscheinendes Wesen. Obwohl die Liebe in ihrer Wirkung dazu führt, konkrete Einzelwesen zu verbinden, geht sie als Kraft weder von dem einen Einzelwesen aus noch strömt sie dem anderen Einzelwesen zu, sondern sie durchströmt beide, und es kann dabei durchaus der deutliche Eindruck entstehen, dass hier ein und dasselbe Wesen sich selbst liebt. Könnte es also nicht sein, dass die Liebe, als Wesen der Ganzheit, dort aufblitzt, wo immer ein Ich im Werden ist, und sich überall dorthin entlädt, wo ebenso andere Iche im Werden sind? In anderen Worten: Ist es nicht vielleicht der Eine Gott, der sich selbst liebt? Denn: Welcher Mensch kann schon ernsthaft behaupten, selbst der Ursprung seiner Liebe zu sein? So sind wir in unserem Gedankengang vom toten Gott des big bang beim lebenden Gott der Liebe angekommen. Wollen wir also jetzt tatsächlich noch an der Vorstellung festhalten, dass der lebende Gott der Liebe unsere Welt aus dem Leichnam eines “vorigen” Gottes zusammengesetzt habe? Spielt Gott Lego, wie ein kleines Kind? Der unterbewusste Wunsch, die Idee von der Materie nicht aufgeben zu müssen, zwingt uns aber zu solchen Gedanken. Selbst wenn wir uns dazu durchgerungen haben, zuzugeben, dass der Übergang von der leblosen Materie zu lebendigen Organismen ganz unmöglich durch jene Kräfte geschehen sein kann, die wir im Leblosen finden können; selbst wenn wir zugeben, dass die Schöpfung nicht möglich sein kann ohne einen bewussten und lebenden Schöpfer, und wir aufgeben haben, diesen Schöpfer hinter dem big bang zu verstecken; selbst dann bleibt noch der Zweifel offen, was eigentlich der ursprüngliche Baustein dieser Schöpfung sei: ist es die Materie oder etwas anderes? Bestehen wir auf dem Gedanken der Materie, dann wollen wir damit letztendlich immer beweisen, dass Gott Lego spielt, und wir erhalten uns dadurch das “kosmische Lego” als den Garant für unsere eigene Existenz, die wir uns nicht anders vorstellen können, als an einen natürlichen Leib gebunden. Wir wollen also nicht von der Vorstellung loslassen, dass es in der Welt etwas geben müsse, das objektiv als Wirklichkeit gegeben ist, weil wir sogar Gott selbst, als höchstem Subjekt, nicht unser jetziges Leben anvertrauen möchten. Die Idee, dass ein Wesen diese Welt, samt uns selbst, aus dem Nichts erschaffen habe, erschreckt uns zutiefst. Was aber ist das Nichts? Allein schon diese Frage zeigt, genauso wie im Falle des Begriffes der Ganzheit, dass wir nicht dazu in der Lage sind, den Begriff des Nichts mit einem Inhalt zu füllen. Es ist genauso unmöglich zu fragen, was ein Nichts ist, wie es unmöglich ist, zu fragen, was jenseits des Ganzen ist. Wir müssen uns darum daran gewöhnen, dass wir auf gewisse Fragen, die sich allein aus unserem jetzigen Seinszustand ergeben, verzichten müssen. Bestehen wir hingegen nicht mehr auf dem Gedanken der Materie, weil wir uns selbst, mit allen möglichen Mitteln, davon überzeugt habe, dass so etwas wie eine Materie nirgendwo aufzufinden ist, dann haben wir uns dadurch den Weg frei gemacht, jenes Wesen, das wir, als Geschöpfe, den Schöpfer nennen müssen, in seinem Schaffen vorurteilslos beobachten zu können. Wir dürfen bei uns selbst entdecken: bevor etwas erscheinen kann, muss es gedacht werden. Alles, was der Mensch erschaffen will, muss zuerst als Gedanke in ihm sein. Und wenn wir uns hinzu noch auf unseren intimen Zusammenhang mit dem Leben der Ganzheit besinnen, dann kann uns recht schnell klar werden: was ich bei mir selbst im Kleinen beobachten kann, ist auch das Prinzip der Schöpfung im Großen. Und auch hier gilt: selbst wenn uns keine Autorität gesagt hätte, dass Gott der Logos ist, könnten wir doch aus eigener Kraft erkennen, dass der Urbaustein der Schöpfung nicht die Materie ist, sondern dass wir auf der genau gegenüberliegenden Seite suchen müssen: im Denken! Und je mehr wir das Wesen des Denkens erkennen, verstehen wir, dass Gott nicht Lego spielt, sondern denkt: liebend denkt. Erst durch solche Gedanken wird die christliche Idee von Tod und Auferstehung ins rechte Licht gerückt. Nicht aus einer fiktiven Materie kann irgend etwas auferstehen, und somit von einem sterblichen Leben zu einem ewigen Leben finden. Nicht etwa aus den Bruchstücken des big bang können wir ein ewiges Ganzes zusammensetzen, sondern nur, indem wir uns bewusst mit dem Ganzen vereinen, das wir bereits sind, können wir uns, als ewige Schöpfer unserer eigenen Ichwesenheit, individualisieren. Unser “Tod” wäre hierbei der freiwillige Verlust unseres jetzigen Bewusstseinszustandes, der uns an eine vorgegebene Leiblichkeit bindet und uns dabei gleichzeitig eine fiktive Freiheit vorgaukelt; und die “Auferstehung” wäre die tatsächlich freie Neu-Schöpfung unserer eigenen Wesenheit, zwar bedingt durch das Wesen des Ganzen, aber in absoluter Freiheit in Bezug auf die Ausgestaltung unserer eigenen neuen Ganzheit. Das Geheimnis einer solchen Neu-Schöpfung aus dem Ganzen heraus ist das Gesetz der Metamorphose, dessen einzige zwingende Voraussetzung unsere grenzenlose Liebe für das Wesen der Ganzheit selbst ist, welche uns als der Sohn Gottes entgegentritt. Psychologisch betrachtet, ist diese scheinbar unsere Freiheit einengende Notwendigkeit, den einzigen Sohn des Schöpfers zu lieben, nichts anderes als die objektive Notwendigkeit, dass wir uns selbst lieben müssen, wenn wir ewig sein wollen. Wir können nicht vom Zustand des Geschöpfes zum Zustand des Schöpfers aufsteigen, solange wir nicht die Schöpfung als Ganzheit grenzenlos lieben wollen. Diese, eigentlich sehr überraschende Fähigkeit, als Geschöpfe die Schöpfung auch nicht lieben können, ist die Voraussetzung für unsere Freiheit. Indem wir die Möglichkeiten dieser Freiheit auszuschöpfen lernen, entdecken wir auch die Möglichkeit zu Irren. Doch auch wenn die Möglichkeit zu Irren das größte aller Wunder der Schöpfung ist, sollten wir zur Weisheit finden, auf den Irrtum freiwillig zu verzichten, statt, wie gebannt von seinem Schein, in selbstzerstörerischer Tatenlosigkeit zu verharren. Denn auch die Möglichkeit, uns selbst zu zerstören, ist Teil der uns gegebenen Freiheit. Statt uns also endlos darüber zu freuen, dass wir fähig sind, einen Irrtum wie den big bang zu denken, sollten wir uns frei dazu entschließen, das Denken selbst zu erforschen, um einst Jenen finden zu können, der uns den Irrtum erlaubt hat.
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Anthroposophie und Gemeinschaftsleben
Man sollte sich erwarten dürfen, dass ein allumfassendes Wissen jene Menschen, die sich mit diesem Wissen beschäftigen, auch umfassend vereinen würde. Doch ist dies bei der Anthroposophie nicht der Fall, solange ihre Schüler sich dieser alles vereinenden Umfassendheit nicht genügend bewusst werden. Es ist sogar bei angehenden Schülern eine gesteigerte Streitbarkeit zu beobachten. Anthroposophie ist also keinesfalls eine Kraft in der Welt, welche automatisch die Menschen zusammenbringt. Mittels des Studiums verbindet sich der Schüler der Anthroposophie mit einer Weisheit, die allumfassend ist. Von der Art, wie diese Verbindung sich gestaltet, hängt sein weiteres Schicksal als soziales Wesen ab. Zunächst tritt die Anthroposophie gleich jedem anderen Wissen in das Leben eines Menschen, als eine Lehre mit einem Wahrheitsanspruch. Dass es sich um ein allumfassendes Wissen handelt, wird es nur von jenen sofort erkannt, welche zuvor an der Beschränktheit aller anderen Wissensformen genügend gelitten haben. Wer der Anthroposophie vorher begegnet, der kann glauben, es hier nur mit einer, neben vielen, Weisheiten zu tun zu haben. Er wird dann versuchen, die Anthroposophie in sein bisheriges Weltbild einzuordnen. Aber nur solange sich ihm das Wesen der Anthroposophie ganz verschließt, kann ihm das auch gelingen. Häufiger ist, dass er das wahre Wesen der Anthroposophie zumindest instinktiv bemerkt, und sie, als Reaktion darauf, vehement von sich weist. Als Normalzustand wäre also eine innerliche Abwehr gegen die Anthroposophie anzusehen. Sich anfänglich gegen die Anthroposophie zu wehren, ist ein Zeichen von Gesundheit, denn es wird hier der natürliche Seinszustand des Menschen in Frage gestellt. Ein seelisch-geistig aufmerksamer Mensch bemerkt beim ersten Kontakt zur Anthroposophie sofort: die Anthroposophie lässt mich nicht so sein, wie ich jetzt bin. Darum kann nur ein seelisch-geistig sehr unaufmerksamer Mensch frohgemut die Anthroposophie in sein Leben integrieren, ohne zu bemerken, welchen radikalen Verwandlungskräften, die sein gesamtes Leben in Frage stellen, er sich hierbei potenziell aussetzt. Solange er jedoch in die Anthroposophie nicht tief genug gedanklich eintaucht, bleibt er vor jeglicher Verwandlung bewahrt. Es stellt sich dann nur noch die Frage, welchen Sinn die Anthroposophie jenseits ihres gründlichen gedanklichen Erfasstwerdens haben könne. Diese Frage muss auf die Meisten angewendet werden, die sich in der Welt als anthroposophisch-gebildete Menschen manifestieren. Man gibt sich da gerne mit Teil-Informationen zufrieden, welche man als Kuriositäten in sein Leben integriert. Und man freut sich, wenn diese Teil-Informationen in praktischen Bereichen zu positiven Resultaten führen, wobei die Positivität weiterhin vom Gesichtspunkt des gewöhnlichen Lebens aus beurteilt wird. Man meint also, die Anthroposophie könne im täglichen Leben nützlich sein. Die Erfolge sind auch beobachtbar, man unterliegt hier keinem Irrtum. Der Irrtum ist ganz woanders zu suchen. Nicht weil man die Anthroposophie in sein eigenes Leben integriert hat, verbessert sich dieses Leben, sondern weil das eigene Leben allmählich in die Anthroposophie integriert wird! Die Beschäftigung mit der Anthroposophie erlaubt es den lebendigen Ideen, die man in sich aufnimmt, das Leben jedes Einzelmenschen sinnvoll in die allumfassende Weisheit einzuordnen. Die allumfassende Weisheit beginnt somit, sich im Einzelmenschen zu individualisieren. Geschieht dieser Vorgang aber nicht vollbewusst, sondern mehr als unterbewusster Einfluss, dann beginnt der Mensch viel zu früh, sich selbst mit der allumfassenden Weisheit persönlich zu identifizieren. Statt diese Identifikation als höchstes Ideal anzusehen, genießt man das Gefühl, sich selbst bereits jetzt als allumfassendes Wesen ahnen zu können. Ein solches Gefühl ist allerdings möglich, sobald man sich der Anthroposophie gefühlsmäßig geöffnet hat. In einer ersten Phase wird demnach die Anthroposophie eher wie etwas Fremdes aufgenommen und genutzt, in einer zweiten Phase beginnt man sie zu verinnerlichen, sich mit ihr zu vereinen. Obwohl die zweite Phase ein Fortschritt ist, liegen hier neue Gefahren verborgen, solange der Mensch sich noch nicht aus dem gewöhnlichen Seelenleben befreit hat. Im gewöhnlichen Seelenleben, das an den natürlichen Leib gebunden ist, entsteht nämlich der Eindruck, das gewöhnliche Ich werde allumfassend. Der Mensch kommt zu einem Lebensgefühl, das ihm vorgaukelt, er selbst als Person sei allumfassend. Die anderen Menschen kommen ihm vor wie Bestandteile seiner eigenen Welt. Man stelle sich nun vor, 2 solche Menschen treffen aufeinander. Jeder erhebt den, meist unausgesprochenen, Anspruch, der Andere sei Bestandteil der eigenen Wesenheit. Man darf sich darum nicht wundern, dass, gerade bei ernsthaften Anthroposophen, in dieser Phase die Streitbarkeit stark ansteigt. Erst wenn die Illusion des physischen Sinneslebens überwunden worden ist, kann dieser leidig-lustige Zustand tatsächlich überwunden werden. Allerdings kann solches erst in einer späteren Entwicklungsphase und auch nur individuell erreicht werden. In jener 3. Phase bildet sich das soziale Leben dann auf einer ganz anderen Ebene, als Liebe von Ich zu Ich. Im gewöhnlichen sozialen Leben kann man darum nur 2 Menschensorten vorfinden, die sich mit Anthroposophie beschäftigen:
Gerade aus dem gewöhnlichen Gesellschaftsleben geht vor allem jene Sorte hervor, die sofort mit Phase 2 beginnt. Hingegen kann es die 1. Sorte fast nur unter jenen geben, die innerhalb von anthroposophischen Institutionen aufgewachsen sind. Eine Ausnahme bilden besonders oberflächliche Menschen, die schlechthin alles in ihr Leben integrieren können, das sich irgendwie alternativ präsentiert. Beim sozialen Schaffen kann man eigentlich nur mit der 1. Sorte rechnen. Die 2. Sorte ist fundamental asozial. Die 1. Sorte von Menschen ist eine ganz ungewöhnliche Truppe von Kulturmenschen. Sie tun das Unmögliche: sie integrieren eine allumfassende Weisheit in ihre eigene, begrenzte Vorstellungswelt. In anderen kulturellen Umfeldern ist das möglich, weil man es nur mit Weisheitssplittern und kompletten Irrtümern zu tun hat. Der einzelne Mensch ist durchaus das Umfassendere in Bezug auf die gewöhnliche Kultur, und er tut gut daran, sich auch so zu verhalten. Jedoch ist Anthroposophie Initiationswissenschaft, welche das Ganze lehrt. Hier ändert sich das Verhältnis! Der Einzelmensch ist zunächst nur ein Teil des Ganzen, er ist Geschöpf, und er muss sich dementsprechend verhalten. Wer größer als das Ganze sein zu will, der muss scheitern - jedoch nur, wenn er es bewusst tut. Unbewusst getan, macht er sich selbst zu einem Kuriosum: man betrachtet es und wundert sich, wie es das geben kann. Die Existenz solcher Kuriositäten muss Rudolf Steiner aber ein großes Anliegen gewesen sein, weil er sonst niemals die Geheimwissenschaft veröffentlichen hätte dürfen. In den alten Einweihungsstätten wurde eine solche Existenzform noch mit extrem strengen Mitteln vermieden. Wenn ein Einzuweihender, der bereits gewisse Einblicke haben durfte, die Prüfung nicht bestand, wurde er nie mehr aus dem Tempel hinausgelassen! Die Waldorfschulen und andere anthroposophische Institutionen erzeugen jetzt hingegen massenweise solche Menschen. Man könnte sie “Tempelflüchtlinge” nennen. In den Seelen der Tempelflüchtlingen tut sich ein weiter Graben auf. Dieser Graben ruft nach einer nie da gewesenen Ausdehnung des Seelischen. Die Seele soll lernen, alle Bereiche des Lebens zu umfassen. Der umfassende Geist will umfassende Einzelseelen schaffen. Die Welt der Tempelflüchtigen Jeder Mensch, der unvorbereitet auf die Anthroposophie stößt, ist ein Tempelflüchtiger. Wie auch in alten Zeiten, kann die Vorbereitung nur darin bestehen, sich aus dem Lebenskampf selbst die nötigen Fragen erarbeitet zu haben, welche in der Anthroposophie ihre Antworten finden. Gerät man hingegen an die Antworten, bevor man an den Fragen genügend gelitten hat, ist man unvorbereitet. Man kann die Antworten dann entweder ganz ablehnen, oder man kann versuchen, sie dekorativ für das eigene Leben zu benutzen. Welchen Weg man geht, liegt sowohl am Charakter als auch am Schicksalsweg. Ein empfindsamer Charakter, der sich nach dem Schönen und Guten sehnt, kann die ungefragt erhaltenen Antworten eher annehmen als ein aggressiver Egoist. Ebenso ist ausschlaggebend, wer der Überbringer der Antworten ist. Hat man die anthroposophische Weisheiten in jungen Jahren in einem liebevollen Umfeld aufnehmen dürfen, dann kann es gut sein, dass man man sie nur deshalb weiterhin mit sich trägt, weil sie einen an eine angenehme Jugendzeit erinnern. In jedem Fall bleibt man aber ein Mensch, der vor den höheren Wahrheiten flüchtet, weil man ihre Notwendigkeiten nicht wirklich einsehen kann. Man ist ein Tempelflüchtiger, der sein Heil in der naturgegebenen Welt sucht. Um sich in der naturgegebenen Welt zurecht zu finden ist jedoch das Tempelwissen nur dann nützlich, wenn man es verinnerlicht hat. Als reiner Dekor ist es ein Zeichen von Schwäche, wie alles zivilisatorische und kulturelle Beiwerk des menschlichen Lebens. Da nun aber tatsächlich sehr wenig vom Mensch übrig bleiben würde, wenn man alles kulturelle Beiwerk aus dem täglichen Leben verbannen wollte, ist es ganz sinnlos über den Mensch als reines Naturwesen nachzusinnen. Der Mensch ist erst Mensch durch eben dieses Kulturleben, in welchem er seine naturgegebene Kreativität zunächst allein ausleben kann. Wollte man solches verhindern, dann wäre das, als würde man sich einen direkten Evolutionssprung vom Tier zum Gott erwarten. Die Menschheitsphase besteht eben gerade darin, dass der Mensch seine göttliche Kreativität nicht in der Natur selbst auslebt, sondern dass er sich ein eigenes Reich neben die Natur hinzu schafft. Die Anthroposophie soll ihm dabei helfen, dass seine eigene Kreativität nicht in einem Widerspruch zur jener Kreativität stehe, welche ihn selbst und die gesamte Natur geschaffen hat. Wäre er jedoch kein Tempelflüchtiger, dann könnte seine eigene Kreativität nichts anderes sein als eine direkte Fortsetzung der natürlichen Kreativität. Gerade weil er ein Tempelflüchtiger ist, kann er etwas Neues schaffen - das allerdings nie etwas anderes als ein Irrtum sein kann. Der Irrtum besteht in der Missachtung jener geistigen Welt, die ihn selbst erschaffen hat. Der irrende Mensch schafft darum Welten, die ihn selbst als Existenzform ausschließen. Würde man es ihm hierbei erlauben, sich aller Naturkräfte zu bedienen, dann würde er sich selbst ent-schaffen! Seine Kreativität muss sich darum auf einen Bereich beschränken, der keine Wirklichkeit hat. Innerhalb der großen Illusion schafft der Mensch sich seine eigene Welt. Die Anthroposophie, in ihrem wahren Wesen verstanden, bereitet diesem Wirken innerhalb des Irrtums ein Ende. Sie soll den Mensch zu einem bewussten Wirken in Harmonie mit jener geistigen Welt bewegen, welche auch ihn selbst erschaffen hat. Das bedeutet aber nichts weniger als dass die Anthroposophie von jenem Leben, das sich innerhalb der Illusion abspielt, verlangt zu sterben. Die Anthroposophie ist darum, wenn wirklich verstanden, kein kulturelles Element, mit dem man das gewöhnliche Leben weiterführen kann. Es kann im allgemeinen Kulturleben darum nur eine unverstandene Anthroposophie auftauchen. Man kann sich darüber wundern, wie so etwas möglich sein könne, da sich die Anthroposophie doch gerade ganz besonders an die Verstandeskräfte wendet. Wie kann man eine Wissenschaft, die den deutlichen Anspruch erhebt, verstanden zu werden, frohgemut benutzen, ohne sie zu verstehen? Im Grunde ist nichts in der Welt so ungeeignet als Kulturträger wie die Anthroposophie. Die Lage ist ganz ähnlich wie beim institutionellen Christentum: sobald man tatsächlich Christ geworden ist, muss man aus der Kirche austreten. Nur verlangt das institutionelle Christentum kein intellektuelles Verständnis, sondern ein rein gefühlsmäßiges Erfassen. Es lässt sich also viel einfacher in unser intellektuell geprägtes restliches Leben einfügen. Zumindest, solange dieses intellektuelle Leben die Religion nicht ausschließt. Bei der Anthroposophie kann aber die Trennung von Denken und Fühlen nicht helfen. Anthroposophie soll gedacht werden. Trotzdem gelingt es den Menschen, die Anthroposophie zu denken ohne zu denken. Von Gedanken zu sprechen, die man nicht verstanden hat, ist für die meisten Menschen kein Problem, sie tun das auch in allen anderen Bereichen. Diese Fähigkeit hat ihren Ursprung in der Gewöhnung an den Irrtumszustand. Man ist gewöhnt zu irren, es mindert nicht das Lebensgefühl. Die Anthroposophie kann sich darum, obwohl sie die Wahrheit ist, in den Irrtum einreihen. Aber sie ist sehr unbequem und darum als Kulturmittel nur sehr eingeschränkt einsetzbar. Es besteht in jedem Moment das Risiko, dass jemand sie versteht. Sobald sie jedoch annähernd verstanden wird, gerät der Mensch in Phase 2, wo er zunächst sozial unbrauchbar wird. In der praktischen Anwendung für das Gemeinschaftsleben kann die Anthroposophie darum nur aus dem Hintergrund heraus wirken. |