Man spricht gerne vom Erwachen. Aber was ist damit eigentlich gemeint?
Zunächst mal muss ich mich fragen: Wer soll erwachen? Diese Frage kann sich jeder Mensch stellen. Und jeder Mensch kann antworten: Ich soll erwachen. Es kann einem dabei auffallen, dass jeder Mensch, egal wie verschieden er sonst von allen anderen sein man, zur genau selben Antwort kommt: Ich soll erwachen. Das Subjekt der Aussage ist immer das gleiche: Ich. Es scheint hier zumindest rein formal keine Differenzierungen zu geben: jeder Mensch bezeichnet sich selbst als Ich, ohne sich dadurch in seiner individuellen Freiheit eingeengt zu fühlen. Jeder hat zwar eine ganz andere Vorstellung davon, wer dieses Ich eigentlich sei, das Wort jedoch ist dasselbe und niemand stört sich daran. Nur wenn einer sich ganz besonders wichtig nimmt, kann er in Versuchung geraten, in der dritten Person von sich selbst zu sprechen. Aber bei erwachsenen Menschen wird das immer seltener zu beobachten sein. Die Meisten begnügen sich mit dem Ich, das sie als Pronomen mit allen Menschen teilen müssen. Es scheint also, das etwas in allen Menschen erwachen soll, was alle Menschen gemeinsam haben: das Ich eben. Da dieses Ich von allen Menschen als ihre ureigenste Person empfunden wird, wäre es vielleicht treffender, diesem Pronomen einen weiblichen oder einen männlichen Artikel, statt des sächlichen zu geben: der Ich oder die Ich. Man könnte also sagen: der Ich - genauso wie man sagt: der Mensch. Oder: die Ich-Wesenheit. Durch den Gebrauch des sächlichen Pronomens entsteht nämlich der Eindruck, dass das uns-alle-vereinende Ich etwas sei, das keine Anzeichen von Persönlichkeit an sich trage, also eine Art neutraler Hintergrund, auf dem wir alle frei unsere Persönlichkeiten entwickeln können. Diese letztere Meinung findet man in der Philosophie, in der Wissenschaft und sogar in der Religion vielfach vertreten. Es wäre heutzutage für viele Menschen ein geradezu unerträglicher Gedanken, wenn jene Wesenhaftigkeit des Ich, die uns alle erst zu Menschen macht, selbst mit Persönlichkeit begabt wäre. Hingegen war es in früheren Zeiten noch eine natürliche Reaktion gewesen, sich jedes höheres Wesen mit persönlichen Eigenschaften vorzustellen. Je mehr der Mensch sich aber mit Hilfe seines Verstandes aus den natürlichen Lebensbedingungen emanzipierte, desto stärker wurde in ihm auch der Drang, sich den Hintergrund der Welt, in der wir uns alle entwickeln, unpersönlich vorzustellen. Ich soll also erwachen. Um das sagen zu können, muss ich ja schon ein wenig wach, zumindest aus dem Schlaf aufgewacht. Es kann aber schon im Traum geschehen, dass der Mensch sich bewusst wird: Ich will aufwachen. Er muss dazu dann normalerweise die Augen öffnen. Verallgemeinert: er muss seine physischen Sinne aktivieren. Sobald er seine Umwelt mit den physischen Sinne wahrnimmt, wacht er auf. Wer wacht auf? Ich wache auf. Und wo ist der Unterschied zwischen dem vorigen Traum- oder Schlafzustand und dem jetzigen Wachzustand? Im Wachzustand stellt sich mir eine Welt entgegen, die ich nicht bin. Hingegen lebte ich im Traumzustand noch so sehr in mir selbst, dass ich weder meinen eigenen Leib noch andere Gegenstände als von mir unabhängige Wirklichkeiten wahrnehmen konnte. Im Traum stieß sich eine undefinierbare Empfindung meiner Leiblichkeit an Vorstellungen, die nur eine schwache Autonomie vorweisen können. Es ist im Traum leicht feststellbar, wie stark alle Vorstellungen von mir selbst abhängen, auch wenn sie eine gewisse Unabhängigkeit zu zeigen scheinen, die ja das Träumen erst interessant macht. Dass die Traumbilder sich nach scheinbar eigenen Regeln verwandeln, und dabei trotzdem nicht unsere seelische Innerlichkeit verlassen, macht das Träumen bei den Menschen so beliebt. Der Mensch lebt im Traum in einem intimen Selbstbewusstsein, das zwar schwach ist, aber ihn deshalb auch nicht zwingt, sich mit der Welt in ihrer Eigenschaft eines Nicht-Ichs zu konfrontieren. Hingegen ist er im Schlaf so tief in sein Ich eingesunken, dass er weder von diesem noch von der Welt ein Bewusstsein hat. Die Vorstellung, dass das Ich ein unpersönlicher Weltenhintergrund sei, kommt also nicht nur aus dem abstrakten Denken, sondern auch aus der bewusstlosen Schlaferfahrung. Wenn ich aber nun mal aufgewacht bin, weil ich die physischen Sinne meines Leibes benutze, dann bin ich auf der Ebene des Gegenstandsbewusstsein. Die Welt stellt sich mir als undurchdringliches Nicht-Ich entgegen. Dadurch stabilisieren sich sowohl mein Ich-Bewusstsein als auch meine Vorstellungen von der Welt. Ich erlebe intensiv, dass mein Ich nicht identisch mit der Welt ist, und werde mir deshalb erst bewusst, ein Ich zu sein. Weil ich für das Erleben des Gegenstandsbewusstsein jedoch einen physischen Leib benutzen muss, verbindet sich mein Ich-Bewusstsein zunächst untrennbar mit diesem. Diese Verschmelzung reicht so weit, dass ich anfänglich mein Ich mit jenem Leib identifiziere. Es fällt mir zunächst gar nicht auf, dass jener Leib ebenso ein Teil der Welt, also des Nicht-Ich, ist. Ich erlebe mich selbst als Gegenstand unter Gegenständen, und nenne diese Verhältnis: Ich und die Welt. Es entsteht aus diesem Zustand, der zwar auf einem Irrtum beruht, in dem die Wahrheit aber trotzdem vorhanden ist, eine neue Vorstellung, die es ohne diesen Zustand niemals hätte geben können: es entsteht die Vorstellung von mir selbst als Einzelwesen. Obwohl ich mich, gemeinsam mit allen anderen Menschen, Ich nenne, stelle ich mir doch vor, mein Ich sei individuell. Diese Vorstellung von meiner Individualität wird allein möglich durch meine Identifikation mit meinem Leib. Ich erlebe mein persönliches Schicksal, das ich zusammen mit meinem einzigartigen Leib erfahre, als meine Individualität. Diese Vorstellung wird jedoch irgendwann durch den Tod unterbrochen. Meine vermeintliche Individualität kann sich nicht halten, weil der Tod meinen Leib zerstören muss. Angesichts des Todes wird der Unterschied zwischen Ich-Wesenheit und Ich-Vorstellung deutlich: dem Ich-Wesen kann der Tod nichts anhaben, aber die Ich-Vorstellung, die sich allein auf den Leib stützt, muss sich wieder auflösen. Doch kann ich als Ich-Wesen, als das ich mich zu bezeichnen gewöhnt bin, mein Ich-Bewusstsein ohne den Leib nicht aufrecht erhalten, weder im Schlaf noch im Tod. Ein Erwachen, das über den Wachszustand des Gegenstandsbewusstsein hinausgehen soll, könnte also zuerst nur darin bestehen, mein Ich-Bewusstsein vom physischen Leib unabhängig zu machen. Dazu wäre aber nötig, dass ich auch ohne den Leib genügend individuelle Züge hätte, um mich selbst als Wesen wahrnehmen zu können. Das Ich, das ich bin, müsste sich von der Welt differenzieren können, ohne sich ihr illusorisch als Gegenstand entgegenstellen zu müssen. Ich müsste also das individuelle Ich, das ich mir bisher nur vorgestellt hatte, tatsächlich werden. Ich darf demnach nicht nur das Produkt der Gegenüberstellung von Ich und Nicht-Ich sein, sondern ich muss selbst das Ich sein, das sich dem Nicht-Ich gegenüberstellt. Hierbei muss ich aber leider als Erstes entdecken: das einzige Nicht-Ich, das es wirklich gibt, ist das Böse. Das Böse wäre vollkommen unerklärbar, wenn die Ich-Wesenheit keinen Persönlichkeitscharakter hätte. Wäre das Ich nur ein unpersönlicher Hintergrund der Welt, dann könnte Nichts als gut oder böse gelten, sondern jede Erscheinung des Lebens müsste gleichberechtigt sein. Ohne den Persönlichkeitscharakter des Ich wäre es unmöglich, in irgendeiner Weise zu bestimmen, was in Einklang mit dem Ich ist und was gegen das Ich ist. Wäre der Urgrund meines Wesens unpersönlich, dann gäbe es kein Böses, weil dann schlechthin alles, was sich in der Welt manifestiert, in Einklang mit diesem abstrakten Urgrund sein müsste. Wenn es aber kein Böses gäbe, dann gäbe es auch kein Nicht-Ich. Niemals hätte sich mir eine Welt als Nicht-Ich entgegenstellen können. Die Erkenntnis des Bösen geht also Hand in Hand mit der Ich-Erkenntnis. Ein Erwachen ohne die Erkenntnis des Bösen ist unmöglich. Böse ist aber all das, was nicht in Harmonie mit der Ich-Wesenheit ist. Dieser Ich, diese Ich-Wesenheit, deren Namen wir täglich alle unzählige Male aussprechen, wenn wir uns selbst bezeichnen wollen, kann nichts anderes sein als eine Person, die sich, wie jede Person, von dem unterscheidet, was sie als Person nicht ist. Also nicht nach allgemeinen, abstrakten Gesetzen müssen wir suchen, wenn wir diese höchste Person finden wollen, sondern wir müssen uns liebend in ihre persönlichen Eigenschaften vertiefen. Diese Vertiefung in die höchste Person des Ich ist identisch mit der Vertiefung in uns selbst: unsere Ich-Werdung ist identisch mit unserer Erkenntnis der Person der Ich-Wesenheit. Durch die Arbeit der Erkenntnis kommt jedoch etwas Neues zu der erkannten Person hinzu: der Erkennende. Obwohl der Erkennende sich letztendlich als niemand anders erkennen kann, als den Erkannten, ist durch das Erkennen trotzdem ein Neues Wesen entstanden: mein eigenes Ich. Diese Individualisierung des einen Ich-Wesens in eine Vielfalt neuer Ich-Wesen sollte im Idealfall ganz ohne eine Integrierung des Nicht-Ichs geschehen. Es scheint nämlich zunächst als einfachste Lösung, um sich gegenüber des höchsten Ich-Wesens zu individualisieren, Elemente des Bösen ins eigene Wesen zu integrieren. Dadurch wird tatsächlich eine sofortige Abspaltung erreicht und die Ich-Werdung scheinbar beschleunigt. Man kann sogar dem Irrtum verfallen, dies sei die einzige Möglichkeit einer Ich-Werdung. Das Böse bietet sich also als bessere oder einzige Alternative zum Guten an und verspricht ein individuelles Dasein jenseits der einen Ich-Wesenheit. Warum dieses Angebot nicht angenommen werden sollte, muss sich jeder selbst erarbeiten, weil das fundamentaler Teil der zu leistenden Erkenntnis-Arbeit ist. Um aber diese Arbeit überhaupt beginnen zu können, muss zunächst mal das Böse als Wirklichkeit erkannt werden. Das Böse selbst ist sich dieses Umstands voll bewusst, weshalb es vermeidet, sich all jenen zu zeigen, von welchen es sich nicht erhofft, dass sie dem erkannten Bösen folgen würden. Dadurch aber wird das Erwachen der Seelen allgemein hinausgezögert, was dem Bösen wiederum nützt, um die Welt als Nicht-Ich immer perfekter zu einer Falle zu gestalten, aus der keine Seele mehr entkommen soll. Um das Erwachen der Seelen generell zu fördern, hat das Gute keine andere Wahl, als das Böse in seiner Wirksamkeit so wenig wie möglich zu hindern, so dass leichter für die Menschen erkenntlich werde, was sie denn nicht sein wollen. Die Seele, die sich als Ich-Bewusstsein erlebt, erwacht an der Erkenntnis des Nicht-Ich umso stärker, je mehr das Nicht-Ich sich in einen krassen Widerspruch zur bereits auf kulturellem Wege erlangten Ich-Vorstellung stellt. Das Nicht-Ich versucht diesen Widerspruch stets zu verschleiern, und es wäre eigentlich die Aufgabe jeder einzelne Seele, diesen Schleier mittels der Erkenntnis und eines moralischen Lebens zu lüften. Wenn aber die Seelen nicht mehr die Kraft zu solcher Arbeit haben, weil sie nach und nach den Bösen unterlegen sind, dann muss das Gute bei Zeiten doch helfend eingreifen, was eigentlich nicht seine primäre Absicht ist, da die Seele nur durch ihre eigene Arbeit ihr höchstes Ziel erreichen kann. Die Hilfe des Guten im Notfall hat darum auch immer einen negativen, verzögernden Einfluss: wenn das Gute das Böse aufdecken muss, um Schlimmstes zu vermeiden, verlieren die Seelen dadurch auch eine Gelegenheit für wertvolle Eigenarbeit. Andererseits entsteht durch ein solches von Außen erzwungenes Erwachen der Seelen auch wieder eine ganz neue Basis für weiteres Erwachen, die es andernfalls nicht gegeben hätte.
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